Neuer Roman von Gary Shteyngart

Super Sad True Love Story

In letzter Zeit gab es ein paar Bücher aus Amerika mit einem sehr deutlichen zeitgeschichtlichen Bezug, darunter Philip Meyers "Rost" und nun Gary Shteyngarts "Super Sad True Lovestory". Shteyngart hat jede toxische Entwicklung, die sich in Amerika anbahnt, einfach geradlinig in die Zukunft extrapoliert, um zu zeigen, was sie am Ende anrichten könnte.

Im Zentrum seines Romans und der Gesellschaft, die er beschreibt, steht der Äppärät, die Weiterentwicklung einer bestimmten Smartphone-Marke, das seine Besitzer zu Transparenz auf sehr perfide Weise zwingt.

Rankings per Äppärät

Der Äppärät erinnert im Wortklang nicht umsonst an die Firma Apple mit der Beigabe einer Prise zackiger Nazi-Diktion. Denn der Äppärät in Gary Shteyngarts "Super Sad True Love Story" ist so etwas wie Apples iPhone mit Funktionen, die das komplette Ausspionieren und Überwachen seiner Besitzer ermöglichen. Die amerikanische Restaurationsregierung nutzt die neue Technologie für ihre Zwecke, aber die Bürger tun ebenso begeistert mit und benoten und bespitzeln sich gegenseitig bis in die letzten Winkel ihrer Existenz.

Viele verdienen sich ein Zubrot, indem sie Freunde und Verwandte dabei filmen, wie sie möglichst skandalöse Geschichten erzählen oder inszenieren. Die Live-Streams, auf YouTube-ähnlichen Kanälen zu sehen, werden von Sponsoren-Werbung flankiert. Aber wehe, die Geschichte verliert an Fahrt. Dann sinken die Download-Zahlen und im selben Moment springen die Sponsoren ab. Gary Shteyngart zeigt das Leben in einem New York der nahen Zukunft als große "Big Brother"-Show.

"Wir sind eine Kultur der endlosen Selbstdarstellung. Jeder will aktiv sein und denkt, er hätte eine tolle Story zu erzählen", so Shteyngart. "Und jeder möchte diese Story wieder und wieder erzählen. Es ist wie mit dem iPhone, das macht pausenlos ping, und die Leute um einen herum machen das Gleiche. Jeder postet auf Teufel komm raus. Urteile, Noten, Rankings. Es gibt eine Web-Site, die heißt, Rank-my-professor.com. Wunderbar! Jeder Aspekt unseres Lebens wird quantifiziert."

Apokalyptische Vision

Die "Super Sad True Love Story" spielt in Zeiten eines beginnenden Technofaschismus'. In Shteyngarts satirisch-apokalyptischer Vision der Zukunft sind die New Yorker Straßen mit sogenannten Kreditmasten gepflastert - übermannshohe Pfosten, die die Bonität der Passanten in einem Display anzeigen.

Statt eines Ausweises ist jeder Bürger gehalten, einen Äppärät bei sich zu tragen. Dort erscheinen seine Charakternoten, die sind umso besser, je bereitwilliger einer über Erlittenes und Erlebtes Auskunft gibt. Der sogenannte Fick-Faktor ist ebenfalls ein Ranking, dessen Ergebnis allerdings besonders für Frauen wichtig ist. Je erniedrigender der Akt, bei dem sie sich filmen lassen, desto besser ihre Note. All das gibt's eins zu eins im Netz zu sehen. Und die Frauen im Mutterland des Feminismus, sie machen einfach dabei mit.

"Hi, liebstes Pony!" S'geht, du Loch?" textet die 24-jährige Heldin Eunice an ihre Freundin, genannt "Grillbitch", auf Global Teens, einer Art Weiterentwicklung von Facebook. Und die antwortet: "Willkommen daheim, fleißiges Flittchen."

Pornokultur als Falle für Frauen

"In meinem Buch tragen die Frauen durchsichtige Hosen und nippelfreie BHs. Sie sprechen wie Pornodarstellerinnen. Dabei sind amerikanische Frauen heute den Männern, was Bildung angeht, weit voraus", meint Shteyngart. "Das Verhältnis zwischen Frauen und Männern, die ein Studium beginnen, ist etwa 60 zu 40. Auf der anderen Seite gibt es diese für Frauen furchtbar entwürdigenden pornografischen Initiationsriten an den Colleges, denen sie sich unterwerfen müssen. Ein Widerspruch, den ich nicht verstehe. Denn an sich würde man ja denken, dass jetzt das Pendel zugunsten der Frauen ausschlägt."

Es ist genau der Widerspruch, den Tom Wolfe in seinem letzten, 2004 erschienenen Zeitgeist-Roman "Ich bin Charlotte Simmons" beschrieb - eine junge hochtalentierte Frau, die an einer amerikanischen Eliteuniversität statt des erhofften Olymp des Geistes eine Hölle der Obszönität vorfindet und sich darin fast verliert.

Wolfe hatte damals jahrelang an einer der Ivy-League-Universitäten eigens für seinen Roman recherchiert. Die Pornokultur als Falle für Frauen ist also beileibe keine Erfindung von Gary Shteyngart. In seinem Zukunfts-Roman ist "porno" folgerichtig das Synonym für attraktiv. Und Eunice ist porno, andererseits aber arbeits- und wohnungslos, weswegen sie dem Drängen des sehr kreditwürdigen Lenny Abramov nachgibt und zu ihm zieht.

Lovestory als Mittel zum Zweck

Eine prosaische Liebesbeziehung beginnt - Shteyngart dokumentiert sie in Lennys Tagebucheintragungen und Eunices Textmessages an Freundin und Familie. Allerdings ist sie, anders als der Titel andeutet, eher eine Nebenhandlung, Mittel zum Zweck, um den Niedergang Amerikas in der zwischenmenschlichen Dimension zu spiegeln.

Frauen arbeiten in diesem New York der Zukunft gerne als Models oder im Konsum, wie es bei Shteyngart heißt. Männer streben Jobs in den Medien an, als Banker oder bei Staatling Wapachung, einem Multi, der Immobilien verkauft, einen privaten Sicherheitsdienst betreibt und ein Lebensverlängerungsunternehmen. In dessen Abteilung "Posthumane Dienstleistungen" ist Lenny Abramov, die Hauptperson des Romans, dafür zuständig, vermögende Menschen zu finden, die sich einer Unsterblichkeitskur mittels Nanorobotern unterziehen.

Bücher nur mehr als Türstopper

Weil Lenny Abramov ein wenig überzeugender, ängstlicher Schmock mit schlechten Blutfettwerten und beginnender Glatze ist, gelingt ihm das nicht besonders gut. Der 39-Jährige schämt sich für seine Einsamkeit genauso wie dafür, dass er Bücher liest. Einer seiner wenigen Freunde heißt Noah. Er ist Schriftsteller und hat das letzte in den USA gedruckte Buch veröffentlicht.

Ganz so weit sei es in Wirklichkeit noch nicht, aber die Entwicklung weise in diese Richtung, meint Gary Shteyngart. "Super Sad True Love Story" hat er auch aus einem Gefühl der Wehmut über die untergehende Bücherwelt geschrieben, "obwohl Wehmut nicht besonders hilfreich ist, denn nichts bleibt so wie es war. Und jede Generation beklagt die Tatsache, dass die guten Zeiten vorbei sind. Aber es ist tatsächlich traurig, dass etwas, was ich sehr liebe, nämlich das Buch, so derart absteigt und an den Rand gedrängt wird - jedenfalls in Amerika. Eunice in meinem Roman benutzt Bücher nur noch als Türstopper. Das habe ich mir nicht ausgedacht, sondern aufgeschnappt in einem Gespräch gebildeter junger Leute. Es gibt hier eine gewaltige Gegenbewegung gegen das Lesen. Der Trend geht hin zu visuellen Formen der Unterhaltung."

"Amerika ist wie Russland geworden"

Shteyngart, der genauso alt ist wie sein Held Lenny, nämlich 39, hat den Roman auch aus Angst um seine neue Heimat Amerika geschrieben. Mit sieben Jahren kam er mit seinen Eltern aus Leningrad nach New York. Im Roman heißt die Stadt Putingrad und liegt in Heilig-Petro-Russland. Er meint also, die Symptome des Untergangs einer Weltmacht gut zu kennen und hat das Gefühl, gerade in einer Art Déjà-vu festzusitzen:

"Ich dachte immer, dass Russland nach dem Fall der Mauer sich Richtung Amerika entwickeln würde mit einer Mittelschicht, die demokratische Ideale hat. Aber jetzt ist es umgekehrt: Amerika ist mehr so wie Russland geworden. Ein Land, das seine Mittelschicht ausgenommen hat und eine kleine Oligarchie hervorbrachte, die inzwischen beinahe alles kontrolliert. Die 1,5 Prozent an der Spitze besitzen etwa 50 Prozent des Vermögens."

Shteyngart witzelt, er fühle sich von untergehenden Weltreichen verfolgt. Und wahrscheinlich würde es so kommen, dass die Amerikaner ihn wegen unpatriotischer Umtriebe bald nach China ausweisen, damit auch da der Niedergang gesichert sei.

China als Retter der USA

Im Roman allerdings übernimmt China das Ruder im heillos überschuldeten Amerika. Die Einparteienregierung Amerikas mit dem jüdischen Präsidenten Rubinstein an der Spitze ist ab da nur noch Makulatur. Der Internationale Währungsfond zieht von Washington nach Peking und arbeitet einen Rettungsplan für Amerika aus. Demzufolge wird das Land in Sektoren aufgeteilt, über die künftig chinesische, norwegische und saudische Staatsfonds herrschen. Die beschließen aus einigen Vorzeigestädten Lifestyle-Center zu machen.

New York wird "absolutes Premiumsegment!", ist sich der Chef von Staatling Wapachung sicher und arrangiert sich mit den Siegermächten. Die in Parks campierenden Horden von Armen werden von seiner Privatarmee ins Hinterland geschafft oder auch - getarnt als Antiterroraktion gegen Islamofaschisten - einfach abgeknallt.

"Es gibt die Tendenz, dass sich die Gewinner der Welt in bestimmten Städten sammeln. New York ist ein Beispiel dafür. London ein anderes. Paris zählt vielleicht noch dazu und Singapur in Asien. Dort parken die Reichen ihre Gewinne, kaufen Grundstücke und Wohnungen", meint Shteyngart. "Das sind Städte, wo es egal ist, was drumherum passiert. Großbritannien kann wirtschaftlich kollabieren, trotzdem wird London immer ein attraktiver Standort sein, mit florierender Wirtschaft und Kultur. Dort wird es sich gut leben lassen. Ich glaube, wir sind dabei, uns wieder zurück zu entwickeln zu einer Gesellschaft wie in der Renaissance, mit kleinen Stadtstaaten, in denen Infrastruktur und Verwaltung gut funktionieren, während der Rest des Landes auf den Abgrund zu taumelt."

Beklemmung mit Satire gewürzt

Gary Shteyngarts "Super Sad True Love Story" ist ein Roman, der eine immense Beklemmung erzeugt. Die wäre schier unerträglich, wenn er sie nicht immer wieder mit einer Salve schärfster satirischer Querschläger durchkreuzte und damit milderte. Selten so gelacht. Selten so mit den Zähnen geknirscht.

Allenfalls an der Konstruktion als Tagebuch-und-Text-Message-Roman wäre etwas zu mäkeln. Nicht nur, dass 30 Druckseiten doch etwas umfangreich für einen Tagebucheintrag sind. Die Geschichte wäre flüssiger, erschlösse sich leichter, wenn Shteyngart einen Erzähler eingesetzt hätte, der die Verhältnisse ein wenig supervisiert, eine Instanz, an die sich der Leser halten kann. Denn da sowohl Lenny als auch Eunice hochneurotische Figuren sind, stellt sich für den Leser ab und zu mal die Frage: Wo sind wir eigentlich gerade? Selten ergibt sich eine gemeinsame Wirklichkeitsschnittmenge zwischen beiden Perspektiven.

Trotzdem bleibt es dabei: Kein Schriftsteller wirft einen derart radikalen Blick in die Zukunft Amerikas wie Gary Shteyngart es mit diesem Roman tut. Es ist wie die Kritikerin der "New York Times" schrieb: Nach "Super Sad True Love Story" können wir nicht mehr behaupten, es hätte uns keiner gewarnt.

Service

Gary Shteyngart, "Super Sad True Love Story", aus dem Englischen übersetzt von Ingo Herzke, Rowohlt Verlag

Rowohlt - Super Sad True Love Story