Essays von Rüdiger Schaper
Karl May
Es sollte keine Biografie werden. Ganz im Gegenteil, ist der Autor angetreten, Karl May aus der eisernen Umklammerung seiner Interpreten zu befreien, wenn nicht gar zu retten. Zu seinem 100. Todestag will er Karl May jene Reverenz erweisen, die diesem nur selten zuteil wurde: die Anerkennung als deutscher Dichter.
9. April 2017, 17:52
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Karl May wird wiederentdeckt, nein: Karl May wird entdeckt. Zum ersten Mal soll er den exponierten Platz in der Kultur- und Literaturgeschichte der Deutschen bekommen, der ihm zusteht. (...) Denn Karl May fällt ein um das andere Mal aus der Literaturgeschichte heraus, kommt gar nicht erst hinein. Er ist Paria, Naturtalent, der Ungehobelte unter den sensiblen und gebildeten Artisten. So mager seine Intellektualität erscheint, so dubios seine öffentlichen Auftritte als Star und Westernmann, seine intuitiven Kräfte grenzen ans Übermenschliche.
Schundliterat und genialer Erzähler
Schon zu Lebzeiten polarisierte der exzentrische Schriftsteller. Politische und ästhetische Moden schufen jene bekannten Klischees, die Karl May entweder zum trivialen Schundliteraten stempelten oder zum genialen Erzähler und Schöpfer deutscher Edelmenschen erhoben. Kritiker erinnerten die Leser schon zu Lebzeiten permanent an die kleinkriminellen Jugendsünden, die Karl May - mehr aus Geltungssucht - für mehrere Jahre ins Gefängnis brachten.
Genau dort, im bekannten Zuchthaus Waldheim fand allerdings mit Hilfe eines katholischen Anstaltsgeistlichen auch seine Umkehr statt: Den schwer narzisstisch gestörten Hochstapler und Betrüger erfasste die Schreibwut. Als gesetzestreuer Bürger vermochte er fortan, seine inneren Konflikte durch seine Romanfiguren auszuleben. Der Schriftsteller Karl May ist daher auch das erstaunliche Produkt einer gelungenen Zuchthaus-Resozialisierung im 19.Jahrhundert.
Rückzug in Pfantasiewelten
All das ist lange und bis ins kleinste Detail bekannt. Rüdiger Scharper geißelt vor allem jene Biografen, die nur das Bizarre und auch für Laien auffällig Pathologische an Karl Mays Kind gebliebener Persönlichkeit zur großen Entdeckung erheben, jedoch die Frage nach der Bedeutung der sublimierten May'schen Phantasiewelten für das Kulturleben eines Jahrhunderts außer Acht ließen.
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Ist es wichtig, wie oft und wann zuerst Karl May gevögelt hat? Die grobe Richtung zu kennen, hilft schon weiter. Man läuft sonst Gefahr, die ohnehin flache Karl-May-Rezeption fortzuschreiben und über die Zeiten Blutsbrüderschaft mit einem Autor zu schließen, der eben das wollte: unberührbar sein bis zur Unkenntlichkeit.
Tatsächlich wusste Karl May selbst, dass seine Kreativität mit einer Art Kindheitskomplex zu tun hatte, der auch auf eine vorübergehende Erblindung zurückzuführen war, in der er sich die Außenwelt in der Phantasie vorzustellen hatte. Auch lassen sich beim Unberührbaren heftige Sexualphobien erkennen: Seine erste Ehe endete in einem Fiasko, die Ex-Gattin landete im Irrenhaus.
Horror vor dem Orient
Doch die bedrohlichsten Zusammenbrüche erlebte der Schriftsteller auf jenen Reisen, die er, als der berühmte Karl May, nach dem Erscheinen seiner Werke in die Gebiete seiner literarischen Träume unternahm. Den Unberührbaren, auch wenn von Touristen unerkannt, trieb der reale Orient in den Irrsinn. Er erlitt Nervenzusammenbrüche.
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Auf der Orienttour muss er gelitten haben wie ein Hund. (...) Mit dem Diener verständigt er sich bestenfalls auf Babyenglisch... Er sprach keine fremden Sprachen, liebte das Gemütliche, Ordentliche, Saubere. In Palästina quälten ihn Dreck und Lärm und unbekannte Speisen. Für Kara Ben Nemsi in Zivil ist der Orient die Hölle.
Neuland in der Formensprache
Karl May fühlt sich nur mutig und frei, wenn er sich aus der warmen häuslichen Schreibstube in seine Abenteuer hinausträumen kann in eine Welt, die ihm untertan ist, die er nach seinen Ideen baut und über deren Bausubstanzen nur er verfügt. Wohl intuitiv hat er in seiner literarischen Formensprache Neuland betreten. Rüdiger Schaper erkennt in Kara Ben Nemsi, der eindeutig Christuszüge trägt, jedoch auch den asketischen modernen Serienhelden mit christlich-humanistischer Mission.
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Karl May hat Hollywood vorweg genommen. Er hat Muster vorgeprägt, die einen Fantasy-Film zum Blockbuster machen. Die Betulichkeit seines erzählerischen Angangs darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass er über die ausgefeilteste Technik verfügt. Was damals ungeliebte Avantgarde war, stellt sich später als popkulturelle Großtat heraus. Mit der Suggestivkraft des Mythendichters hat Karl May den Zugang zu jener Welt geöffnet, in der das Kino blüht.
Skalp Fiction
Mit seinen thematisch strukturierten Essays, verwandelt Rüdiger Schaper Karl May nicht nur in einen guten Schriftsteller, sondern in auch in einen, der intuitiv die Kunst der Kolportage - "Skalp Fiction" gewissermaßen - erfunden hat. Doch bis heute bleibt die Qualität des Dichters May, der seine Figuren in endlose platonische Dialoge über Gerechtigkeit, Edelmut und Tugenden verwickelt, die auch nicht so schlecht wie ihr zeitweiliger Ruf sind, von seinem eigenen gigantischen Schreibmassiv verschüttet.
Schapers ungemein wortgewaltige und witzige Essays, so erhellend sie sind, graben jedoch erst einzelne neue Sandspuren in die alten Interpretationswüsten.
Service
Rüdiger Schaper, "Karl May. Untertan, Hochstapler, Übermensch", Siedler Verlag
Siedler Verlag - Rüdiger Schaper