Franz Schuh und die Bibliothek

Die "Café Sonntag"-Glosse

Ja, ich empfinde ein Ressentiment gegen diese Bibliotheken, denn sie beruhen auf dem obszönsten aller Prinzipien, nämlich auf dem Rückgabeprinzip.

Sie wollen, dass man die Bücher, die man ausgeliehen hat, zurückgibt, und ist es nicht barbarisch, dass der Mensch das durch Lektüre einverleibte Buch wieder herausgeben soll?

Da sind sie, diese Bibliotheken, nicht zu reden von den Nationalbibliotheken. Die Nationalbibliotheken sind zumeist eingemauert hinter imperialen Wänden, Hüter unserer Schwellenängste, auf die das Internet mit seiner fixen Idee, alles unbedingt allen zur Verfügung zu stellen, nur gewartet hat. Das Netz lauert auf Stoff, um seine digitale Wampe zu füllen.

Da stehen in den Nationalbibliotheken Millionen von Büchern, darunter viele, sehr viele, nach denen kein Mensch mehr fragt, und ihre Zukunft gehört dem Netz und dem Unwort der Epoche: Herunterladen, herunterladen. Dieser Laden klappt am besten und die Maschinen kopieren hoffentlich nur die Bücher, für die keine Seele mehr das Urheberrecht beanspruchen darf. Die Automatisierung schafft der Dummheit einen Paradeplatz. - Wer zum Beispiel "Plato" im Internet sucht, wird von google mit der Assoziation beschert Plateauschuhe.

Auf diesem Plateau ist nun die Bildung zuhause, also auch Plato. Plato, der antike Philosoph, hat die Skepsis gegenüber der Schriftkultur überliefert: Kein Mensch, so der Skeptikter, wird in der Schriftkultur ein Gedächtnis haben, alle werden sich anhand der Schrift erinnern. Die Schrift nimmt ihnen die Gedächtnisleistung ab, und die so entlasteten Menschen, ungeübt im auswendigen Wissen, abhängig von der Schrift, werden vergesslich.

Im 19. Jahrhundert, als wenigstens ein Philosoph, sich ganz und gar skeptisch inszenierte, nämlich Friedrich Nietzsche, kam man endgültig dahinter, dass selbst das beste Gedächtnis eh nur interessensgeleitet, also bestechlich ist. Bei Nietzsche kann man lesen: "Das habe ich getan", sagt mein Gedächtnis. "Das kann ich nicht getan haben", sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich - gibt das Gedächtnis nach.

Gegen diese Nachgiebigkeit stehen die Bücherberge in irgendeinem Keller rum, eingepackt von Zeitungsbeständen. Dass die Zeitung von gestern nur den Schmarrn von vorgestern erzählt, und zwar interessengeleitet, dass sie also niemals der Erinnerung wert ist, hat noch keinen unserer professionellen Wegwerfunfähigen daran gehindert, alle Jahrgänge zu sammeln. Glücklich die Völker, die keine Geschichte haben - sie haben ja auch keine nationalen Gedenktage und keine einschlägigen nationalen Helden, denen zum Gedächtnis man die Nachbarn massakriert und sich dabei zugleich als Opfer vorkommt.

Ach, ausweglos ist die Lage des Menschen. In unseren Breiten lebt der Mensch in einer Zeit, die - wie Alexander Kluge es gesagt hat - "durch den Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit gekennzeichnet ist". Die Gegenwart heute duldet keine andere Zeit neben sich. Geschichte täte also not, aber die alte Geschichtsversessenheit, der ewige Historismus der Historiker aller Art mit seinen verschimmelten kulturellen Werten, hat ebenfalls abgedankt. Bleibt nur das Prinzip Hoffnung, also zum Beispiel, ob vielleicht nicht auch in den Bücherbergen ein Gedanke schlummert, der von ihnen weg in die Zukunft führt ...