Kinderpsychiater sieht keine Besserung

Gewalt in Heimen bis in die 90er

Wenn in den vergangenen Monaten von massiver Gewalt an Heimkindern die Rede war, dann wurde das meist auf die 60er und 70er Jahre bezogen. Doch der Kinderpsychiater Ernst Berger sagt nun, offenbar habe sich in Wien bis in die 90er Jahre nichts an der Situation und den Formen der Gewaltausübung an Heimkindern geändert.

Morgenjournal, 22.2.2012

Keine Besserung

Ab Anfang der 70er Jahre war bekannt, dass Wiener Heimkinder massiver Gewalt ausgesetzt sind, unter anderem durch eine Studie der Psychologin und späteren SPÖ-Abgeordneten Irmtraud Karlsson. Eine Heimreform brachte auch kleinere Gruppen, mehr Erzieherinnen und Erzieher sowie deren Sensibilisierung und bessere Ausbildung. Doch offenbar habe sich die Situation der Heimkinder dadurch nicht verbessert, sagt der Kinderpsychiater Ernst Berger. Denn auch jene, die zwischen 1975 und 1990 in den Heimen waren, hätten "in ganz ähnlichem Prozentsatz von körperlicher, psychischer und sexueller Gewalt berichtet. Und auch die Betrachtung ihrer späteren Lebenswege zeigt keine bessere Situation als jene der Menschen, die vor 1975 in den Heimen waren."

"Systematischer Sadismus"

Berger hat 100 Gespräche ausgewertet, die er in letzter Zeit mit Betroffenen geführt hat, 25 haben zwischen 1975 und 1990 in Heimen gelebt. Die Aussagen werden zwar relativiert dadurch, dass sich von den, über die Jahrzehnte gerechnet, rund 50.000 Heimkindern bisher nur 900 gemeldet haben, sagt Berger. Aber Rückschlüsse auf das Gesamtsystem seien trotzdem möglich, etwa dass die stärksten Traumatisierungen durch psychische Gewalt ausgelöst wurden. Berger erfuhr von "Formen von fast systematischem Sadismus, wo Kinder entwürdigt und Situationen ausgesetzt worden sind, die man als öffentliche Beschämung bezeichnen muss." Noch heute, 40 Jahre danach, würden die Betroffenen bei der Schilderung der Erlebnisse in Tränen ausbrechen, so Berger.

Sexuelle Gewalt durch Nonnen

Von sexueller Gewalt waren 40 der 100 Gesprächspartner Bergers betroffen - zum Teil durch offenbar pädosexuell veranlagte Erzieher, aber auch durch Nonnen, die Wiener Heime führten, und durch andere jugendliche Mitzöglinge - "mit dem Wissen und oft sogar motivierten Einsatz durch die Erzieher", so Berger: "Aber es gibt auch Schilderungen, dass Nonnen sexuelle Gewalt ausgeübt haben und sexuelle Handlungen eingefordert haben."

Soziale Probleme

Die Auswirkungen all dessen: Das Ziel, Kinder aus schwierigem familiären Umfeld durch die Heimerziehung auf einen stabilen Lebensweg zu bringen, ist bei vielen nicht erreicht worden: Nur ein Drittel seiner Gesprächspartner habe es später zu einer stabilen Partnerschaft gebracht, 12 Prozent hätten später keine Partnerschaften, 55 Prozent instabile Partnerschaften gehabt. 27 Prozent seien kriminell geworden, "wobei bei fünf Prozent die kriminelle Laufbahn praktisch lebensbestimmend gewesen ist."

Weitere Details der Auswertung der Gespräche

63 Prozent berichteten über massive körperliche, psychische oder sexuelle Gewalt, 40 Prozent über sexuelle Gewalt. 28 Prozent haben noch immer schwere Turbulenzen in ihrem sozialen Umfeld, 53 Prozent schwierige Sozialkontakte. 46 Prozent geben psychische Leiden an, wie etwa Angst- oder Panikzustände und Depressionen.

Verbesserung erzielt?

Berger glaubt und hofft, dass sich seit Ende der 90er Jahre die Situation der Heimkinder tatsächlich verbessert hat. Seit damals gibt es zumindest in Wien kaum mehr Großheime, sondern kleine Wohngemeinschaften mit Erzieherteams. Dennoch müsse man weiter aus der Vergangenheit lernen und Personalstand, Ausbildung der Erzieherinnen und Qualitätsmanagement weiter verbessern.

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