Neue Essays von Thomas Stangl
Reisen und Gespenster
Reisen und Gespenster sind das Markzeichen von Thomas Stangl: Seine vielfach ausgezeichneten und von der Kritik einhellig gelobten Romane handeln von der Möglichkeit und Unmöglichkeit des Reisens. Das heißt: Wer nicht reist, wird zum Gespenst. Und zugleich: Kein Gespenst wird durch Reisen zu einer Person.
8. April 2017, 21:58
Weil wir aber nicht immer reisen können, lesen wir. Dieses Weltbild en miniature ist zugleich Thomas Stangls Poetik - imaginäre Fahrten in einer Art rasendem Stillstand, hervorgerufen und zugleich gebändigt durch gleichförmiges, ebenmäßiges Erzählen in langen mäandernden Sätzen.
Stangls Hauptort - egal ob sich da jemand - möglicherweise der Erzähler? - in Afrika, Mexiko oder in der Wiener Leopoldstadt aufhält, ist das schreibende, nicht das erzählende als vielmehr das reflektierende Ich. Die einzige Kritik, die Thomas Stangls Erzählen bislang erfuhr, lautete denn auch "Essayismus": Bei dem, was er mache, handle es sich nicht wirklich um Prosa, sondern um "essayistisches Schreiben", also Metaliteratur.
Das trockene Rauschen der Schrift
Die knapp zwanzig, zwischen 1994 und 2011 entstandenen Essays und Reden geben Einblick in die Gegenbewegung. Diese Essays gehen von einer "prosaischen" Situation aus, evozieren eine Gedankenbewegung, wechseln vorsichtig in Prosa zurück, unmerklich, zaghaft - das Ganze klingt betörend. Dennoch sind Stangls Essays kein fröhliches Flanieren durch exotische Weltgegenden, mit Ambiente sozusagen, keine musikalisch untermalte Reiseberichterstattung mit sonoren O-Tönen.
Thomas Stangls O-Ton ist das trockene Rauschen der Schrift, Buchstabe an Buchstabe gereiht, Wort an Wort, Satz für Satz, ein Gang durchs eigene Hirn, das irgendetwas was sucht. Am ehesten wohl: Stille. Stangl nennt es selbst "Präsenz". Ein Spaziergang durch eine Tiroler Landschaft mit dem Titel "Landvermessung" endet etwa so:
Zitat
Er macht ein Foto von Wolken, die sich in einer Wasserlache spiegeln. Eine junge Frau mit Hund und rotem Anorak sagt GRIASS DI zu ihm, der sich seit langem angewöhnt hat, mit HALLO zu grüßen." (...) "Auf seinem Rückweg der Ötztaler Ache entlang zum Bahnhof lernt er, die klare Luft zu atmen, wie von selbst gehen seine Schritte in Bilder und Sätze über.
Vom Augarten zum Donaukanal
Die Verweigerung hochtrabender Weltvermessung von den Steppen Zentralasiens bis zum Nordpol ist Thomas Stangl Sache nicht. Er folgt vielmehr einer einfachen und höchst bedeutsamen Einsicht: Wer glaubt, er könnte seine Probleme durch Reisen in ferne Länder loswerden, wird sich wundern: Kaum in der unvertrauten Umgebung angekommen, wird dieser Reisende von einem ganzen Rattenschwanz an eigenen Probleme eingeholt werden.
Das bezieht sich natürlich auf "echte" Reisende: Stangl fährt zwar auch in der Welt herum - immer wieder nach Spanien, Portugal, nach Mexiko -, seine radikalsten Ausfahrten verlassen aber weder den eigenen Schreibtisch noch die eigenen vier Wände. Der Weg führt höchstens bis zum Augarten oder an den Donaukanal. Das Ganze mutete dabei fast wie ein religiöses Programm, eine Art Exerzitium an.
Kein Kind von Bescheidenheit hebt die Essaysammlung so an: "Lange Zeit habe ich mich bemüht, nur schriftlich zu existieren. Ich wollte kein Gesicht haben." Zwar steht dieser Verweigerung schon der einfache Umstand der Grammatik entgegen, die den Schreiber immer wieder nötigt, "ich" zu sagen, und es wird lange Zeit auch nicht klar, was dieses "Ich" eigentlich antreibt, gehen, reden, schreiben, denken, ja leben lässt. Gegenstände des Alltags, der Umgebung werden sozusagen querfeldein miteinander verbunden, wie auf einer Perlenkette oder einem Rosenkranz aufgefädelt, en passant liest man schließlich: "Ich zehre von dieser Lust: sterben ohne zu sterben; etwas an der Stelle des wirklichen Sterbens, für das es keinen Trost gibt."
Immer wieder bekannte Gesichter
Eine Reise auf den Spuren des französischen Schauspieler-Surrealisten Antonin Artaud in den 1930er Jahren ins Mexiko der Tarahumaras wird zur Suche nach dem "ganz anderen"; in Mexiko besucht Stangl auch ein Museum von Mumien, parallel spaziert er durch die publikumserfolgreiche Ausstellung "Körperwelten"; nicht weniger gespenstisch fällt schließlich das Flanieren zwischen Augarten und Donaukanal aus:
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Es quält ihn, immer wieder auf bekannte Gesichter zu stoßen, er würde sich wünschen, die Figuren an der Kassa würden jeden Tag ausgetauscht. Er geht montags zu Billa, dienstags zu Spar, donnerstags zu Zielpunkt, freitags zu Mondo; in der nächsten Woche muss er den Kreislauf von vorne beginnen.
Es handelt sich dabei um keine Verbeugung vor der selbstgenügsam-depressiven Welt der Bobos im 2. Wiener Gemeindebezirk, sondern um eine Bestandsaufnahme in einer Welt "neoliberaler Utopien", die nichts mehr will und alles hat: Die lakonische Erklärung dazu: "Man weiß nie, was man aufbaut, wenn man zerstören will, man weiß nie, was man zerstört, indem man handelt." Der Erzähler fährt dann doch zur Abwechslung nach Györ, Sopron oder Brünn. Als er am Donaukanal eine lesende Frau sieht, kommt es zu einem kurzen Blickwechsel: Was passiert sonst noch? Nichts.
Vergangenheitsbewältigung
Der beste Text in "Reisen und Gespenster" ist "Die Reisen des Bernwart Vesper", eine Mikrostudie über den Sohn des Nazidichters, der sich 1971, 33-jährig, in einer Hamburger Psychiatrie umbrachte und dessen einziges Buch "Die Reise" heißt. Der nicht ganz zu Unrecht vergessen Vesper war - nach seinen Ausflügen in die 68er Szene, zur RAF, zu Drogen und sexueller Befreiung - an der Vergangenheit seiner Naziherkunft zerbrochen. Vesper im Original: "ich wusste genau, dass ich Hitler war, bis zum Gürtel (...), aber es ist gar nicht Hitler, es ist mein Vater, meine Kindheit." Thomas Stangl kommentiert so:
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Die Unerreichbarkeit der Vergangenheit und die Erreichbarkeit der andern Person, das Unmögliche und das Unverzichtbare sind ineinander verschränkt. Eine verschobene und verdrehte Variante dieser Aporie kann erfahren, wer als Kind der Mörder (oder auch nur als Bewohner eines Landes der Mörder) sehen muss. Die Strategie, in imaginärer Weise auf die andere Seite überzuwechseln, um sich von der Last dieser Erbschaft zu befreien, liegt nahe.
Klügere Sätze zum Thema "Vergangenheitsbewältigung" hat man selten gelesen. In der Rede anlässlich der Verleihung des Erich-Fried-Preises wird Stangl noch deutlicher: "So wie junge Deutsche und Österreicher sich einbilden konnten, den Kampf gegen den Faschismus zu wiederholen und diesmal, anders als ihre Väter, auf der richtigen Seite zu stehen."
Keine leichte Kost
Am leichtesten zugänglich sind Stangls Texte, in denen er in Form von Miniaturen, kleinen Vignetten große Fragen mit persönlichen Erinnerungen verknüpft: Seine Anfänge als Schriftsteller mit Kontoauszügen, die sich wie Hochwasserstandsmeldungen ins Minus hinein lesen; der Besuch eines Iggy-Pop-Konzertes in der Wiener Arena samt langem Heimweg durch die Schlachthausgasse; der amüsante Traktat zur jugendlichen Frage "Sind wir Punks oder Anarchisten?" - während die Mutter des Protagonisten das Essen zubereitet. Eine Romanlektüre im Zug, kurz nach dem Tod des Vaters, ein Kinobesuch, das Delirium von Alzheimerpatienten, die nirgendwohin reisen, nur noch Reise sind, also auch Gespenster.
Der Band "Reisen und Gespenster" ist keine leichte Kost. Bisweilen verwandelt sich der betont nüchterne Schreibduktus in Langeweile; manchmal wirken die Gedankenbögen hochtrabend gestelzt: gegen das Exerzitium des Schreibens möchte der Leser immer wieder einwenden: Mehr Selbstabstand täte gut! Aber dennoch: Wer - außer Thomas Stangl - traut sich heute noch Sätze wie diese zu notieren: "Das Wirkliche ist das Wunderbare. Du bist bereit. Allesaufzugeben".
Oder: "Irgendwann haben wir uns eingebildet, am Ende der Geschichte angekommen zu sein, und sind in einer gespenstischen Welt ohne Gespenster gelandet."
Service
Thomas Stangl, "Reisen und Gespenster", Literaturverlag Droschl
Droschl - Reisen und Gespenster