Zusammen nur aus wirtschaftlichen Gründen

Zygmunt Bauman

Der Pole Zygmunt Bauman gehört zu den einflussreichsten Soziologen weltweit. Trotz seines hohen Alters - Bauman ist 87 Jahre alt - ist er noch immer ein aufmerksamer Beobachter der Gegenwart. Seine Themen waren und sind dabei vielfältig.

Als Jude hat er sich eingehend mit dem Holocaust und der Frage des Bösen im Menschen befasst. Als Marxist hat er sich kritisch mit dem Kapitalismus und der Konsumgesellschaft auseinandergesetzt. Und als in England lebender Pole hat er sich aus verschiedenen Blickwinkeln seine Gedanken zur EU gemacht.

Kulturjournal, 22.03.2012

Wolfgang Popp: Zygmunt Bauman, die Krise der EU ist in aller Munde, wie hat sie sich auf das Zusammenleben der Menschen ausgewirkt?

Zygmunt Bauman: Das Besondere an dieser Krise ist, dass sie die Handlungsunfähigkeit der Regierungen öffentlich aufgezeigt hat. Sie waren nicht in der Lage, die Schäden zu reparieren, die durch die Krise entstanden sind. Die unmittelbare Folge ist, dass die Bevölkerung, noch weniger als zuvor, Rettung von ihren Regierungen erhofft. Das führte zu einem Aufstand der Empörten. Die sind aber nicht vereint durch ihre soziale Stellung oder die Art ihrer Probleme, sondern einzig und allein durch ihre Empörung und die Ablehnung des vorherrschenden Systems. Das wollen sie beseitigen, ohne aber unbedingt zu wissen, was an dessen Stelle kommen könnte.

Was wir mit Sicherheit wissen ist, dass die herkömmlichen Mittel nicht mehr effektiv sind. Regierungen haben nicht mehr die Macht wie noch vor 40, 50 Jahren, doch wer sind die neuen Machthaber? Manche glauben, dass es Internetplattformen wie Twitter oder Facebook sind, die es erlauben, Mitteilungen gleichzeitig an Tausende von Menschen zu verschicken. Damit ist es zwar möglich, die Menschen an öffentlichen Plätzen zu Protesten zusammenzubringen, wenn man aber versucht, sie zusammenzurufen, um zu diskutieren, was an die Stelle des verhassten Systems treten könnte, wird keiner kommen. Warum? Weil die Meinungen der Empörten, wie ich schon angedeutet habe, eigentlich weit auseinanderklaffen und es nichts gibt, was sie vereint. Schauen Sie, was aus dem Arabischen Frühling geworden ist: Wir warten immer noch auf den Arabischen Sommer.

Wir sprechen hier über Communities, also Gemeinschaften, die vom Internet hervorgebracht wurden. Die scheinen sich aber deutlich von herkömmlichen Gemeinschaften, wie wir sie aus der Vergangenheit kennen, zu unterscheiden.

Da gebe ich Ihnen Recht. Ich halte das eigentlich für einen Missbrauch des Begriffs "Community", weil es im Internet um ein ganz anderes Phänomen geht. Ein Facebook-Enthusiast kann an einem einzigen Tag 500 Freundschaften schließen. Ich bin 87 Jahre alt und habe in meinem ganzen Leben keine 500 Freunde gehabt. Ganz offensichtlich müssen unsere Konzepte von Freundschaft also grundverschieden sein. Und genau dasselbe gilt auch für Communities. In traditionelle Gesellschaften wurde man hineingeboren, die hat man sich nicht ausgesucht. Dort wurde auch die Einhaltung eines Regelwerks streng kontrolliert. Und aus solch einer Gemeinschaft auszutreten, war sehr schwierig. Wer das versuchte, wurde als Verräter beschimpft oder sogar hingerichtet. Das war also eine ernste Sache. Was wir im Internet vor uns haben, ist etwas ganz anderes. Ich würde es statt Community eher Netzwerk nennen, weil es keine objektive Sache ist, sondern um den Einzelnen herum organisiert ist. In meinem Netzwerk können sich deshalb auch zwei Menschen befinden, die miteinander im Streit liegen und niemals in derselben Gemeinschaft anzutreffen wären. Die Internet-Community unterscheidet sich von herkömmlichen Gemeinschaften also durch ihre Brüchigkeit. Es ist ganz einfach, jemanden loszuwerden, man braucht ja nur aufhören damit, Mitteilungen zu beantworten. Ob man mit solchen Communities etwas aufbauen kann, wage ich deshalb auch zu bezweifeln.

Ist das vielleicht auch ein Problem der EU, dass sie mehr Netzwerk als tatsächliche Gemeinschaft ist?

Als Politiker wie Schuman, Spaak, Degasperi und Adenauer Anfang der 50er Jahre erstmals die Idee für einen Vorläufer der Europäischen Union hatten, sprachen sie nicht über Solidarität, eine gemeinsame Identität oder eine gemeinsame Kultur, stattdessen sprachen sie über Kohle und Stahl. Ich habe das erlebt damals und ich kann mich an keine Reden erinnern, in denen die Vereinigung Europas in leidenschaftlichen Worten beschworen wurde. Das waren weise Männer, weil sie wussten, dass es viel einfacher ist, Europa durch die Küchentür kommend aufzubauen. Sie haben einfach Tatsachen geschaffen. Wenn die Förderung und Produktion von Kohle und Stahl in den gemeinsamen Händen von Frankreich, Deutschland und Italien liegt, konnte man ziemlich sicher sein, dass keines dieser Länder Waffen zum Kampf gegen den anderen herstellen würde. Auf solchen hauptsächlich wirtschaftlichen Tatsachen und nicht auf Ideen wurde die EU aufgebaut. Mittlerweile sind die gegenseitigen Abhängigkeiten in Europa so groß, dass ein Auseinanderbrechen der EU, trotz vieler diesbezüglicher Ängste, unwahrscheinlich geworden ist.

Ein bestehendes Problem ist, dass die Übereinkünfte in der EU von Politikern fernab der Lebensrealität der Bevölkerung geschlossen werden. Der deutsche Soziologe Ulrich Beck und der EU-Parlamentarier Daniel Cohn-Bendit haben deshalb erst vor wenigen Tagen einen Entwurf vorgelegt, über den bald in allen Zeitungen berichtet werden wird. Darin geht es um mehr Basisdemokratie in der EU. Die beiden zeigen auf, dass Regierungen, die eifersüchtig auf die Erhaltung ihrer Macht und die nächsten Wahlergebnisse bedacht sind, kein guter Ausgangspunkt für eine geistige Vereinigung Europas sind. Wenn so etwas entstehen soll, dann viel eher aus einer Volksbewegung heraus. Sie nennen das eine realistische Utopie. Wir haben solche Bewegungen am Tahrir-Platz in Kairo beobachten können oder bei der "Occupy Wallstreet"-Bewegung, wenn ein Zusammengehörigkeitsgefühl durch die Etablierung wirtschaftlicher Bande herbeigeführt werden kann. Wie war es dann zuletzt in Osteuropa? Dort hat ja nicht weniger als eine wirtschaftliche Kolonialisierung durch Westeuropa stattgefunden.

In unserer heutigen flüssigen Moderne gibt es nach Jahren der Marktöffnung, der Individualisierung, der Privatisierung und der Auflösung von Gemeinschaften verschiedene Zukunftsperspektiven. Die Utopien wurden eben auch privatisiert. Wenn Menschen von einer Verbesserung ihres Lebensstandards träumen, dann geht es ihnen darum, sich einen bequemen und sicheren Platz in einer grundsätzlich unsicheren und unbehaglichen Welt zu finden. Es geht ihnen nicht darum, die Welt an sich zu verändern. Und dasselbe gilt auch auf Staatsebene. Die osteuropäischen Länder sind der EU beigetreten, weil sie sich davon Vorteile erwartet haben. An die Idee Europa hat man dabei wenig Gedanken verschwendet. Die Vorteile hat es auch definitiv gegeben, denn diese Länder sind viel wohlhabender als früher.

Service

Derzeit ist Zygmunt Bauman in Wien zu Gast. Am Abend des Donnerstag, 22. März 2012, spricht er am Wiesenthal Institut. Sein Vortrag, "A Natural History of Evil", also eine Naturgeschichte des Bösen, findet um 18:30 Uhr im Haus-, Hof- und Staatsarchiv am Minoritenplatz statt.

Wikipedia - Zygmunt Bauman