Plädoyer für mehr Menschlichkeit

Die Summe meiner einzelnen Teile

Eigentlich hat der aus Vorarlberg stammende Regisseur Hans Weingartner Gehirnforschung studiert, ein naturwissenschaftliches Interesse, das sich auch in seinen Filmen widerspiegelt. Schon in seinem Spielfilmdebüt "Das weiße Rauschen" stand ein psychisch kranker Mann im Mittelpunkt, ebenso wie in Weingartners neuestem Film "Die Summe meiner einzelnen Teile".

Mittagsjournal, 28.03.2012

"Wir brauchen eine Werteverschiebung"

Der Job geht verloren, die Wohnung ebenso, die Freundin verlässt ihn, der Alkohol übernimmt das Steuer in der Existenz von Martin (Peter Schneider), einem hochbegabten Mathematiker Mitte 30. Vorläufige Endstation: Psychiatrie; und auch der Weg danach ist mit Tabletten gepflastert.

Ein psychischer Grenzgänger, der dem Stress der Arbeitswelt nicht mehr gewachsen ist und der an den Rand der Gesellschaft gedrängt wird, steht im Zentrum von Hans Weingartners Film "Die Summe meiner einzelnen Teile", eine Figur, die Hans Weingartner als prototypisches Opfer heutiger Arbeitsverhältnisse sieht und daher für ein generelles Umdenken plädiert: "Ich glaube wir brauchen eine Werteverschiebung, nicht mehr das Wirtschaftswachstum und der Profit dürfen das höchste Ideal einer Gesellschaft sein, was wir vor allem brauchen ist Menschlichkeit".

Natur als Therapieterrain

Neben diesem gesellschaftskritischen Überbau arbeitet Weingartner die psychischen Probleme radikal auf der Ebene des Individuums ab, erlaubt Martin die Flucht aus einer unwirtlichen, grau-blau stilisierten Großstadt in den Wald. Die Natur in sattem Grün und erdigem Braun wird zum Therapieterrain, das Sich-Entziehen, die Sehnsucht nach dem Aussteigen. Ein mit den Mitteln des Kinorealismus verwirklichtes Unterfangen, bei dem manche Kontraste überdeutlich ausfallen. "Wenn man ein Thema hat, muss man einfach dazu stehen, wenn man alles immer nur nivelliert, kommen immer nur lauwarme Filme 'raus", meint Hans Weingartner.

Kino-Antidepressivum

Langsam setzt Martin die Summe seiner einzelnen Teile wieder zusammen, auch mithilfe eines 10-jährigen Buben aus der Ukraine, eine Projektionsfläche für die vielen Mangelerscheinungen in Martins Leben, vor allem für Liebe und Geborgenheit. Doch soll auch das nur ein Produkt überbordender Vorstellung gewesen sein? Hans Weingartner unternimmt eine Operation am offenen Herzen des Kapitalismus, legt bedrohliche Verkalkungen des Systems frei. Nicht jeder Schnitt sitzt hier richtig, aber dennoch Kino als etwas anderes Antidepressivum.

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Die Summe meiner Teile
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