Wider die Eile

Die Kunst der Entschleunigung

An einer belebten Stelle der Fußgängerzone, direkt vor dem großzügigen Museumsbau der Stadt Wolfsburg schieben sich seit Ende Oktober 2011 zwei amerikanische Achtzylinder, ein Chevrolet und ein Plymouth Duster im Schneckentempo ineinander. Wer dieser Tage am Ort des Geschehens vorbeiflaniert, sieht bereits die verbeulten Motorhauben zweier Fahrzeuge, die frontal zusammengekracht sind.

Ausgerechnet hier im Zentrum Wolfsburgs, einer Stadt, die sich seit den 1930er Jahren dem Traum von Mobilität verschrieben hat, in der pro Tag gut 3.000 Autos vom Fließband gehen, wird die Zerstörung einer modernen Mobilitätsikone bis zur Schmerzgrenze in die Länge gezogen. Denn der US-amerikanische Künstler Jonathan Schipper hat eine Installation entwickelt, die einen Autounfall in Zeitlupe – fast möchte man sagen – zelebriert. Seit Ende Oktober bewegen sich die beiden Fahrzeuge jeden Tag genau 1,32 Zentimeter aufeinander zu. Am Ende der Ausstellung, im April, werden die beiden Gefährte reif für den Autofriedhof sein. Was bleibt vom Geschwindigkeitsrausch? Diese Frage stellt auch die aktuelle Ausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg, die den zeitgeistigen Titel "Die Kunst der Entschleunigung" trägt.

Ein Wasserfall aus Wörtern

Während sich vor dem Eingang des Kunstmuseums Wolfsburg Autos ineinander verkeilen, gibt im Inneren die Installation des deutschen Künstlers Julius Popp den Takt im Wettlauf mit der Zeit vor. Seine Installation "bit.fall" ist ein Wasserfall, der Wörter produziert. Sie stammen von Nachrichten-Websites und werden von einem Computerprogramm nach dem Zufallsprinzip selektiert.

Julius Popp nimmt die Sprache quasi beim Wort und führt vor, wie schnell sich die Relevanz vermeintlich aktueller Informationen im modernen Medienzeitalter verflüssigt. Denn: Die Wörter, die aus Wassertropfen gebildet werden, verschwinden schneller als man sie lesen kann. Was heute gilt, ist morgen Schnee von gestern. Eine permanente Überforderung, die mit den neuen Kommunikationskanälen des sogenannten Web2.0, mit Twitter und Facebook, eine weitere Dimension erreicht hat.

Neu ist das Problem trotzdem nicht. Über den beschleunigten Informationsfluss klagte bereits der Deutschen liebster Universalgelehrte Johann Wolfgang von Goethe. In der Ausstellung "Die Kunst der Entschleunigung" kommt er als Entschleunigungspionier zu Ehren.

"Er hat sich auch eine Auszeit genommen", so Museumsdirektor Markus Brüderlin", "er hat einmal eine Zeitlang keine Zeitungen gelesen und hat danach gesagt: Seit ich keine Zeitung mehr lese, bin ich viel besseren Geistes."

Dass ausgerechnet Goethe, der im beschaulichen Weimar residierte, an einem beschleunigten Lebensstil gelitten haben soll, mag verwundern. Seine kulturpessimistisch verbrämte Zeitkritik zeugt jedenfalls von der Verunsicherung, die die Gesellschaft am Vorabend des Maschinen- und Industriezeitalters ergriffen hat. 1825 etwa schreibt Goethe an seinen Freund Carl Friedrich Zelter:

"Teufelswerk" Hast

"Veloziferisch", so lautet ein Neologismus, den Goethe für das beschleunigte Tempo des modernen Zeitalters erfand: Die Hast, die Eile ist also Teufelswerk, die Kritik an der Beschleunigung erscheint als säkulare Variante der religiösen Kritik an der irdischen Geschäftigkeit. Kurz, die Kunst der Entschleunigung ist auch ein postreligiöser Weg zur Heilung und Erlösung, wie der Berliner Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme feststellt.

Übertriebene Eile galt darüber hinaus bis weit ins 19. Jahrhundert hinein schlichtweg als unschicklich. Während es heute geradezu chic ist, gehetzt zu wirken und das ständige Klingeln des Mobiltelefons über den Grad der Wichtigkeit einer Person entscheidet, war die Gemächlichkeit einst Zeichen von Würde und gediegener Bürgerlichkeit. In seinem Epochenporträt "Die Welt von gestern" erinnert sich Stefan Zweig an das Wien der Gründerzeit.

Geschwindigkeitsrausch der Futuristen

Nicht zuletzt als Kontrast zur Behäbigkeit des saturierten Bürgers verfallen die Avantgarden, allen voran die Futuristen, einem wahrem Geschwindigkeitsrausch. Die Malerei der Futuristen konzentriert sich auf die Darstellung von Bewegung und zeugt von der Faszination für das Tempo der Großstädte, für das Dröhnen der Motoren, für das Blinken der Leuchtreklame, das Dampfen der rasenden Maschinen. 1909 erscheint im "Figaro" das erste futuristische Manifest von Filipo Tommaso Marinetti:

Gegensätzliche Positionen

Die Ästhetik der Moderne steht seit den Futuristen im Zeichen von Fortschrittsoptimismus und Beschleunigung. Markus Brüderlin spürt in der Ausstellung "Kunst der Entschleunigung" eine zweite, gegenläufige Traditionslinie auf, die er - so die These der Ausstellung - die "Avantgarde der Entschleunigung" nennt. Giorgio de Chirico, ein Vorläufer der Surrealisten, wird hierzu etwa gezählt. Seine "pittura metafisica" stellen verwaiste Plätze mit antik anmutenden Gebäuden dar, die an Sehnsuchtsorte oder Angstkulissen in Träumen erinnern.

Auch die frühe abstrakte Malerei, die wesentliche Impulse aus fernöstlichen Philosophien bekommen hat, verortet Brüderlin im Kontext der Entschleunigungsmoderne: Werke, deren stille Betrachtung die meditative Versenkung, das Eintauchen in die Tiefen des Seins ermöglichen sollen. Geometrische Stillleben von Piet Mondrian zum Beispiel.

In der Schau "Die Kunst der Entschleunigung" lässt Markus Brüderlin gegensätzliche künstlerische Positionen miteinander in Dialog treten, um eine neue Lesart der Kunstgeschichte zu präsentieren, die die Moderne jenseits des Beschleunigungsparadigmas neu entdeckt. Dieser epochenübergreifende Vergleich wirkt manchmal etwas gesucht, manchmal ergeben sich interessante Gegenüberstellungen - etwa wenn in der Ausstellung Josef Beuys' Filzstapel und Andy Warhols serielle Darstellung der berühmten Campbell-Suppendose zueinander in Bezug gesetzt werden.

Orte der Stille

Die Rastlosigkeit der Moderne, so wurde verschiedentlich festgestellt, beruht nicht zuletzt auf einer narzisstischen Kränkung des modernen Ich. Nachdem die Philosophen Gottes Tod proklamiert und den Menschen auf sein irdisches Leben verwiesen haben, muss der Mensch in diesem einzigen, irdischen Leben möglichst viel erleben, muss möglichst schnell und intensiv leben, muss möglichst viel produzieren. Diese Beschleunigungsspirale konturiert das Projekt der modernen Kunst. Daneben - und das demonstriert die aktuelle Ausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg - gab es aber immer auch eine ästhetische Tradition, die in der Kunst einen Ort der Stille und des Innehaltens gesucht und gefunden hat.

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Kunstmuseum, Wolfsburg - Die Kunst der Entschleunigung