Aura der Gewalt

Angst und Wut in Italien

Der neue Roman von Giancarlo de Cataldo und Mimmo Rafele, "Zeit der Wut" heißt auf Italienisch "Die Form der Angst". Der eine Autor ist im Hauptberuf Richter, der andere Drehbuchautor (u. a. "Allein gegen die Mafia").

Angst als politische Strategie

"Als wir 'La forma della paura' geschrieben haben, hatten wir die Angst im Kopf, wie sie nach dem 11. September politisch instrumentalisiert wurde, als die Menschen glauben gemacht wurden, sie stünden am Rande eines dritten Weltkriegs", sagt Giancarlo de Cataldo; "als die Ausgaben für oft nicht einmal existierende Sicherheits-Ansprüche massiv erhöht wurden, während man gleichzeitig die demokratischen Garantien in allen westlichen Demokratien verringert hat."

Zwei Hauptpersonen des Buches, ein junger Polizist und ein junger Anarchist, finden sich nicht einverstanden mit ihrer Welt und verwenden den Zorn als Mittel, um diese Welt anzugreifen und sie zu ändern. Beide gehen in die Irre, sagt de Cataldo, weil sie in Wirklichkeit nur Instrumente in einer größeren Inszenierung sind.

"Ich glaube, die deutsche Übersetzung will mehr die Wut der einzelnen Personen in den Mittelpunkt stellen als das Konzept der Angst, das als politische Strategie die letzten zehn Jahre unseres Lebens beeinflusst hat."

Der Zorn auf der Straße

Einer der handelnden Polizisten hat einen Hintergrund als Ultra des gegenwärtig in der Serie B spielenden Fußballklubs "Hellas Verona", und erlebt eine Wandlung vom rechtsextremistischen "Fußballfan" zum gewaltbereiten Polizisten. Auch hier entsteht die Frage nach der Wut, die zum Beispiel bei Hellas-Fans im Verherrlichen der Vielfachmörder mit dem Pseudonym Ludwig, oder antisüdlichen Transparenten wie "Keine Tierversuche, nehmt Neapolitaner" ihren Ausdruck fanden.

"Das Phänomen der Ultras heute ist wirklich außergewöhnlich", meint Mimmo Rafele. "In praktisch jeder europäischen Stadt ist das zu einer Form des Protestes geworden. Was früher einmal der Kampf mit der Polizei aus politischen Gründen war, ist aus fußballerischen Gründen adaptiert worden, aber in ganz Europa findet man in den Städten Mauern mit der Aufschrift 'ACAB – All Cops are Bastards'. Und in diesem Sinn schien es interessant als neuer Weg, in den sich die Wut kanalisiert."

"Die Wut ist das Gegenstück zur Angst", meint de Cataldo, "das sind zwei Gefühle, die einen sich verlieren lassen, die im Bauch arbeiten, nicht im Hirn. Die Botschaft, die dieses Buch hat, ist, dass in den letzten Jahren eine Mythologie von Angst geschaffen wurde, die unseren Zorn auslöst - den Zorn auf der Straße, den Zorn der Jugendlichen gegen die Polizisten, die Wut der Polizisten gegen die Jugendlichen, während die wichtigen Dinge woanders passieren. Es ist ein großer Betrug, dieser Roman handelt von einem großen Betrug. Alle Personen hier werden betrogen."

Auf der falschen Seite?

Giancarlo de Cataldo, Richter am Berufungsgericht in Rom, hat den Prozess gegen die sogenannte Magliana-Bande in seinem mehrfach verfilmten "Romanzo Criminale" bearbeitet, schon von Berufs wegen kennt er die unterschiedlichen Sichtweisen, aber auch die Versuchungen für "Diener des Staates", seien es nun Polizisten oder Richter:

"Achtung, wenn man vom Staat spricht, ist von einem vielförmigen Gebilde die Rede. Es ist schwierig zu unterscheiden zwischen denen, die für den Staat arbeiten - die Verteidigung der Demokratie -, und jenen, die im Staat gegen die Verfassung arbeiten. In Italien war in den letzten Jahren sehr viel über die Differenzen zwischen Richtern und politischer Macht die Rede, und der Wunsch der politischen Macht, jeder Form der Kontrolle zu entweichen, war sehr deutlich. Das hatte natürlich auch auf die Kultur der Justiz Auswirkungen – es wurden sich einige von uns bewusst, dass sie die Armen ins Gefängnis schicken und den Mächtigen den Freifahrtschein geben."

"Demokratie ist zerbrechlich"

"Im vergangenen Oktober gab es in Rom eine sehr heftige Demonstration, die aus einem Protest gegen die Wirtschaftskrise und die damalige Regierung Berlusconi hervorging", erzählt Cataldo. "Man wusste, dass Leute vom Black Block die Demonstration infiltrieren würden und konnte sie unter Kontrolle halten; was man sich aber nicht vorstellen konnte war, dass Jugendliche, die kein Motiv zum Demonstrieren hatten, die nicht einmal politisiert waren, die Aura der Gewalt aufnahmen und die schlimmsten Sachen gemacht haben - Autos und Häuser angezündet haben und sogar Polizisten in ihrem gepanzerten Auto anzuzünden versucht haben, einfach weil sie da waren - ohne Motivation. Es gelingt nicht, einen Feind zu identifizieren."

"Wir mögen die Jugendlichen, wenn sie einkaufen, aber wir treten sie, wenn sie Arbeit wollen" sagt de Cataldo vom Umgang der Gesellschaft mit Jugendlichen, die sich von Büchern verabschiedet haben, und von Elektronik sozialisiert worden sind. Seiner pessimistischen Analyse setzt er aber dennoch Jugendliche entgegen, die bei aller Diskreditiertheit der Politik neue Wege eines solidarischen Miteinanders suchen.

Roberto Saviano sei mit seinem einsamen Kampf gegen die Camorra ein Star bei den Jugendlichen, besonders auch deshalb. weil er nichts mit der Politik zu tun habe: "Unser Schicksal wird heute vom Spread dirigiert, dem Zinsunterschied zwischen italienischen Staatstiteln und deutschen. Diese Krise dauert länger als die der Wallstreet. Es ist eine Krise, die die Demokratie zugrunde richten könnte. In der Krise sind die die stärksten, die liquid sind. Wer ist heute liquid? Die aufsteigenden Länder, die Finanzmärkte, und das organisierte Verbrechen."

"Wo gehen die Mafia-Gelder hin?", fragt Rafele. "Milliarden und Milliarden Euro, wo sind sie? Sie sind möglicherweise bei Banken; so manche Banken stehen möglicherweise noch auf den Beinen, weil bei ihnen diese Milliarden liegen. Meine private Meinung ist, dass eine Demokratie eine zerbrechliche Regierungsform ist, sie braucht eine gewisse Ruhe. Wenn alles gut geht, hat der Spruch 'Ein Mensch, eine Stimme' seinen Sinn, aber wenn es schlecht geht, funktioniert das nicht mehr, weil die Mehrheit riskiert, als Mehrheit der 'Schlechteren' angesehen zu werden. Das, was in Italien geschieht, ist eine schreckliche Bestätigung hierfür: Die Regierung Monti, diese Regierung der Fachleute, ist in Wirklichkeit eine Aufhebung der Demokratie – in dem Augenblick, an dem die Dinge ernst werden, sagt jemand, jetzt schicken wir die Regierung weg und nehmen die Tüchtigen, die Praktiker, die wissen, wie man die Dinge macht."

Service

Giancarlo de Cataldo und Mimmo Rafele, "Zeit der Wut", aus dem Italienischen übersetzt von Karin Fleischanderl, Folio Verlag

Folio - Zeit der Wut