Die Wiener Seele

Zwei neue Nestroy-Biografien

Am 25. Mai 1862, vor 150 Jahren, starb der große österreichische Dramatiker Johann Nestroy. Aus diesem Anlass erscheinen gleich zwei interessante Nestroy-Biografien. Eine stammt aus der Feder des britischen Nestroy-Experten Edgar Yates, die andere hat die Wiener Theater- und Kulturkritikerin Renate Wagner geschrieben.

Kulturjournal, 18.05.2012

Der österreichische Volksdramatiker sei in keine Sprache übersetzbar, hat Hans Waigel einmal formuliert, nicht einmal ins Deutsche. Da wird Renate Wagner, seit Jahrzehnten eine der Instanzen der Wiener Theaterkritik, gleich einmal fuchsig. Sie mag es nicht, wenn man Nestroy zur ost-österreichischen Regionalgröße herabstuft, auch wenn es nett gemeint ist.

"Ich glaube, ihn auf das Wienerische zu reduzieren, da würde man ihm unrecht tun", meint Renate Wagner, "denn er hat Stücke geschrieben - wie 'Talismann', wie 'Der Zerrissene', wie den 'Jux', wie 'Lumpazivagandus', die einfach so grundsätzlich sind... nicht nur Biedermeier oder 19. Jahrhundert oder Wien. Das ist Welttheater."

Renate Wagner hat im Verlag Kremayr und Scheriau eine profunde Nestroy-Biografie vorgelegt, eine Publikumsbiografie, die den Menschen Nestroy in seiner ganzen springinkerlhaften Widersprüchlichkeit lebendig werden läßt. "Der Störenfried", so lautet der Titel von Wagners Biografie.

Ein Mann der Praxis

Die Seele des gemeinen Mannes in seiner spezifisch wienerischen Emanation: Kaum einer hat sie so gründlich erforscht wie der 1801 geborene Advokatensohn Johann Nepomuk Nestroy. Der Wiener Seele eignet, auch das hat Nestroy durchschaut, neben allerlei unguten Ambivalenzen, ein Hang zu maßloser Verfressenheit.

Renate Wagner arbeitet in ihrer Nestroy-Biografie aufs Anschaulichste heraus, dass der sogenannte Volksdramatiker vor allem ein Mann der Theaterpraxis war. "Was die Arbeit betrifft, so war er ein Worcaholic", meint Wagner.

Ein Skeptiker par excellence

Auch der britische Literaturwissenschaftler Edgar Yates – emeritierter Professor an der Universität von Exeter – hat punktgenau zum Nestroy-Jubiläum eine Biografie des Wiener Volksdramatikers herausgebracht - wobei Yates dem oft strapazierten Begriff "Altwiener Volkstheater" kritisch gegenübersteht: "Ich mag den Begriff 'Volkstheater' nicht, ich glaube, das verniedlicht das Phänomen. Ich glaube, es handelt sich um internationales Unterhaltungstheater."

Edgar Yates ist Mitherausgeber der historisch-kritischen Nestroy-Ausgabe. In seiner gut lesbaren Biografie, die sich insgesamt eher an ein Fachpublikum richtet, in dieser Biografie betont Yates vor allem den tiefsitzenden Skeptizismus in Nestroys Charakter:

"Nestroys Blickpunkt ist auf allen Seiten skeptisch. Ob man revolutionär oder konservativ ist, er greift alles an, wie die besten Satiriker", sagt Yates. "Skepsis ist immer relevant. Wenn man die politische Szene betrachtet, in welchem Land auch immer, dann muss Skepsis die erste Reaktion sein."

Promiskuitiv unterwegs

Diese Auffassung teilt Renate Wagner. Nestroys Skepsis beruht auf einer realistischen Einschätzung menschlicher Schwächen. Der "alte Adam" in uns sei nun einmal nicht nur den Prinzipien des Wahren, Edlen und Schönen verpflichtet.

"Ich bin der Meinung, dass man die meisten Zitate aus seinen Stücken als Selbstaussage sehen kann", so Wagner. "Wenn er zum Beispiel sagt: 'Ich glaube von allen Menschen das Schlechteste, auch von mir selbst, und ich habe mich selten getäuscht', dann ist das eine Aussage, die ihm aus der Seele kam."

Ausführlich beschäftigt sich Renate Wagner in ihrem Buch mit Nestroys Beziehung zu seiner Langzeitpartnerin Marie Weiler - und mit den unzähligen Gspusis, die der notorisch zwei- oder mehrgleisig fahrende Dramatiker unterhielt. Dabei war Nestroy von seinem Naturell her, so Wagner, ein eher schüchterner Mensch: "Andererseits war er ein Womanizer schlimmsten Ausmaßes, der seine Gefährtin Marie Weiler ununterbrochen betrogen hat. Meiner Meinung nach hat der die unglaubliche Arbeitslast einfach durch die Abenteuer mit Frauen kompensiert."

Aus der Revolution herausgehalten

Interessant auch Nestroys Verhalten während der 1848er-Revolution. Gerade von ihm, dem zeit- und obrigkeitskritischen Satiriker, erwarteten die revolutionären Kräfte ein klares Bekenntnis zu Freiheit, Verfassung und Demokratie. Der Skeptiker Nestroy blieb ein solches Bekenntnis schuldig.

"Es ist ja interessant, dass die großen Intellektuellen wie Grillparzer und Nestroy sich in die große Begeisterung des Volks nicht hineinstürzen wollten, denn die haben genau gewusst: Kinder, das bleibt nicht so", meint Wagner. "Und er hat sich wie Grillparzer nie in die erste Reihe der Schreienden gestellt."

Edgar Yates, der - bei aller wissenschaftlichen Distanz - aus seiner Bewunderung für Nestroy kein Hehl macht, Edgar Yates glaubt an die ungebrochene Aktualität des Satirikers Nestroy: "Die menschliche Natur ändert sich nicht. Glauben Sie vielleicht, daß es jetzt weniger Korruption oder weniger Übermut gibt als früher? Nein, die Welt bleibt ein Feld für die Satire."

Textfassung: Ruth Halle

service

Renate Wagner, "Der Störenfried. Johann Nestroy - ein Theaterleben", Kremayr und Scheriau

W. Edgar Yates, "Johann Nestroy", Verlag Quodlibet

Kremayr & Scheriau - Der Störenfried
Quodlibet - Johann Nestroy