Die Epoche des Papiers

Weiße Magie

Lothar Müller erzählt die gesamte Erfolgsgeschichte des Papiers, die in etwa ein hundert Jahre nach Christi Geburt begann und heute im digitalen Zeitalter erstmals den Status als vorherrschender Kommunikationsträger zu verlieren droht.

Dieses Gedicht aus der Barock-Zeit zitiert Lothar Müller ziemlich am Anfang seines rund 350 Seiten langen Buchs. Der anonyme Dichter dieser Zeilen will zeigen, was Papier aus dem Menschen macht: Einen selbstbewussten Schreiber, der das weiße, noch unbeschriftete Stück Papier zu einem blühenden Wort-Acker umgestaltet, und dessen Tinte der "Samen" für das zu Schreibende ist.

Der Untertitel von Müllers Buch, "Die Epoche des Papiers", ist schlichtes Understatement, denn Müller erzählt die gesamte Erfolgsgeschichte dieses Gegenstandes, die in etwa ein hundert Jahre nach Christi Geburt begann und heute im digitalen Zeitalter erstmals den Status als vorherrschender Kommunikationsträger zu verlieren droht. Papier ist Epochen übergreifend, es ist eine "magische Substanz", wie Lothar Müller schreibt.

Die meisten von uns werden Name und Herkunft des "Papiers" mit der Papyrusstaude und dem Beschreibstoff "Papyrus" aus dem antiken Ägypten in Verbindung bringen. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Denn in China begann man rund hundert Jahre nach Christi Geburt aus Textilresten frühe Formen von Papier herzustellen. Das Wissen gelangte dann in den arabischen Herrschaftsbereich und von da nach Europa. Und hier wurde die Papierherstellung im Mittelalter technisch verbessert und gewerblich genutzt.

Von Italien aus verbreiteten sich schnell eine Vielzahl von Papiermühlen, die die stets steigende Nachfrage decken mussten. Wichtig ist dabei, dass Papier am Anfang seiner Karriere ein reines Recycling-Produkt gewesen ist. Denn hergestellt wurde es aus Lumpen.

Man mag es sich heute kaum vorstellen: Zeitweise waren Lumpen so sehr begehrt, dass Länder Ausfuhrverbote erließen. Verwunderlich ist dies nicht, denn neben der Kirche benötigten Universitäten, Notare, Stadtschreiber, Schriftsteller und auch einfache Bürger zu Privatzwecken immer mehr Papier. Dass der Papierbedarf durch Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks mittels beweglicher Metalllettern nochmals rapide anstieg, muss nicht weiter erklärt werden. Aber es dauerte lange, bis ein neues Verfahren die Papierherstellung revolutionierte.

Erst Mitte des 19. Jahrhunderts, als wissenschaftlich die Cellulose im Holz nachgewiesen wurde, konnte sich ein neuer Industriezweig etablieren: die Zellstoffproduktion. Damit beginnt das moderne Papier seinen Siegeszug – und dies zu einer Zeit, wo auch die Industrialisierung der westlichen Welt ihren entscheidenden Schub getan hat. Die Wochen- und Tageszeitung ist ein sicheres Zeichen, um zu sehen, wie das gedruckte Papier immer größere Massen von Menschen erreichten. Lothar Müller bringt da ein eindrucksvolles Beispiel.

Diesen Siegeszug des gedruckten Papiers kann man allerdings auch noch mit einem anderen Beispiel veranschaulichen.

Lothar Müller erzählt in seinem Buch nicht bloß den Siegeszug des Papiers als Trägermedium von Information und als Gebrauchsgegenstand, er lässt auch immer wieder Schriftsteller zu Wort kommen, die sich über die Beschriftung des Papiers Gedanken gemacht haben: Von Goethe und Honoré de Balzac, über Emile Zola und Hermann Melvilles bis zu James Joyce und Rainald Goetz.

Das macht das Buch natürlich lebendig - und insgesamt ist Lothar Müllers "Weiße Magie. Die Epoche des Papiers" eine vergnügliche Lektüre, die Wissen sachgerecht vermittelt. Bleibt die Frage, was vom Papier bleibt im digitalen Zeitalter?

Lothar Müller gibt sich an dieser Stelle siegesgewiss: Zur Gänze kann und wird das Papier nicht verschwinden. Es ist und bleibt ein relativ sicheres Trägermedium, während digitale Speicherung von gestörter Stromversorgung, irrtümlicher Löschung und steter Neuformatierung bedroht ist. Und Hand aufs Herz: Mit einem virtuellen Toilettenpapier wäre jeder von uns ziemlich aufgeschmissen.

Service

Lothar Müller, "Weiße Magie. Die Epoche des Papiers", Carl Hanser Verlag 2012