99 Jahre österreichische Filmmusik
Stief-Musiken
"Ich bin blind und die Musik ist meine kleine Antigone, die mir helfen wird, das Unglaubliche zu sehen" Jean-Luc Godards Aperçu über seine Anerkennung für die richtige Musik zum Film.
8. April 2017, 21:58
"Zungenküsse, Marxergasse, Mercedes 1979, Schiebedach, Gasanlage, Vollausstattung" - Peter Weibel spricht, das Hotel Morphila Orchestra rockt, Hanno Pöschl treibt‘s auf dem Dach, endlich regnet es. Wir hören Franz Novotnys Exit - Verklärte Nacht, Johann Strauss und Otto M. Zykan vertonen weiter. So, auch so, klingt Wien.
Wien im Film - das klingt einmal nach Bösendorfer im Engel mit der Posaune, einmal Hans-Moserisch näselnd im Klang Hans Langs, einmal zeitgemäß in den Wienerinnen nach Paul Kont, einmal im Heurigen-Flair des Anton Karas. Erich Kleinschuster vertont das Wien der Nachkriegsruinen in den Verwundbaren, eine Tabu-überschreitende Liebesgeschichte zwischen Männern, ein Film, der Regisseur Leo Tichat die Karriere verdarb. Gulda improvisiert sanft aus der Stadt heraus zu Erika Pluhars Fahrt an die tschechische Grenze in Moos auf den Steinen, die Sonne geht auf, der Film bekommt Farbe, die Filmmusik geht - in der Wahrnehmung - unter.
Nein, nicht Hollywood in Vienna, nicht Collagen aus Beethoven oder Mozart für Dalmatiner und Co, sondern die österreichische Filmmusik steht im Mittelpunkt von neun Folgen, deren Stammväter Robert Stolz und Johann Strauss sind. Eine Geschichte, die 1913 begann und heuer in das 99. Jahr geht. Es gibt etwas zu feiern; waren es vor ein paar Jahren noch oft Pseudonyme, hinter denen sich Komponist/innen verbargen, ist mehr und mehr eine Hebung des Images zu vermerken - nicht zuletzt dank institutioneller Maßnahmen der Förderung. Kein kompositorisches Genre ist heute ausgeschlossen: die große Symphonie, Film-Oper, wie sie Krenek, Paul Angerer, Paul Kont versuchten, Kammermusik, elektronische Musik, Klangbausteine wie jene der Symphonic Library - Herbert Tucmandl hat damit Atmen vertont.
Filmmusik ist nichts weniger als eine Gelegenheitsarbeit, es ist eine Gelegenheit - das erkennen Olga Neuwirth, Gabriele Proy, Bernhard Lang, Peter Androsch, Peter Zwetkoff, Giselher Smekal, HK Gruber, Michael Mautner, Peter Ponger und Peter Kaizar. Naked Lunch, die Sofa Surfers, Attwenger und David Hebenstreit treten für die Vaterlosen oder den Knochenmann auf - und danach auch aus der Leinwand auf die Konzertbühne.
Die Sommerserie in neun Teilen hebt einen verborgenen, unsichtbaren Schatz - kaum archiviert, selten in getrennten Tonaufnahmen verwahrt: Paul Konts Science Fiction eines befreiten Österreich namens 1. April 2000, Georg Wilhelm Pabsts Zusammenarbeit mit Roland Kovac, Alois Melichar oder Erwin Halletz.
Seit Hanns Eisler hat sich kaum ein Komponist theoretisch zu seiner Arbeitsweise geäußert, der Film wird in seinem Szene-Setting, in seinen Aussagen und Inhalten aber kaum in seinem Beitrag zum Kompositons-Œuvre wahrgenommen, musikwissenschaftlich überhört. Wir machen einen Anfang: mit dem sommerlichen Filmhören.