Artenvielfalt und Kultur
Vom Verstummen der Welt
Um die ursprüngliche Flora und Fauna unserer Erde ranken sich viele fantastisch anmutende Geschichten. Marcel Robischon, Forstwissenschaftler und Biologe, erinnert durch sein Buch "Vom Verstummen der Welt" an eine Zeit, in der noch eine unvorstellbare Vielfalt, ein Reichtum an Arten unseren Planeten bewohnte. Mit dem Verschwinden der Arten verarmt nicht nur die Natur, es geht auch immer ein kultureller Verlust damit einher.
27. April 2017, 15:40
Mammut, Moa, Beuteltiger, weiße Elefanten - vor allem die Riesen der Urzeit faszinieren, weil sie so anders scheinen, als all das, was wir heute auf unserer Erde finden. Höhlenmalereien und alte Kunstwerke zeigen diese Tiere längst vergangener Zeit: Fantastische Lebewesen mit langen Hälsen, dicken Körpern, in bunten Federkleidern und gemustertem Fell. Doch dort, wo früher eine Vielfalt und Einzigartigkeit an Tieren und Pflanzen zu finden war, zeigt sich heute ein einheitliches Bild. Die Welt besteht immer mehr aus einem Sammelsurium homogener Ökosysteme.
Blinde Passagiere zu Inseln
Die Inseln unserer Erde, in Ausdehnung und Artenzahl beschränkt, erzählen am besten die Geschichte dieser verheerenden Entwicklung. Hier lassen sich Umweltveränderungen und der Eingriff des Menschen in die Natur mit all seinen ökologischen Konsequenzen besonders gut beobachten.
Mit den ersten Menschen kamen auch fremde Tiere und Pflanzen. Ratten, Schweine, Hunde und Katzen. Ob sie als blinde Passagiere, Nutztiere oder treue Begleiter der ersten Seefahrer auf die Inseln gelangten, war für das, was dann geschah, nicht von Bedeutung. Die eingeschleppten Tiere fraßen Flora und Fauna gleichermaßen; die fremden Pflanzen fingen langsam an, die endemische Vegetation zu verdrängen, sodass sich vor allem jene Regionen der Erde, die ähnliche klimatische Bedingungen aufwiesen, immer mehr anglichen.
Abenteuer und Ausbeutung
Wir verbinden die Geschichten Humboldts und Kolumbus' bis heute mit Abenteuer, Wildnis und Freiheit. Aber sie erzählen gleichzeitig auch immer von Gewalt, Ausbeutung und Gier. Die Wissenschaftler und Entdecker von damals suchten das Ursprüngliche, Unveränderte und empfanden die ersten Überfuhren von Tieren und Pflanzen wahrscheinlich als wahres Abenteuer, dessen Auswirkungen sich bis heute nur schwer abschätzen lassen.
Mit zunehmender Vernetzung der Kontinente verbreiteten sich die Arten immer schneller, wie Marcel Robischon erklärt:
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Der Transport von Arten um die Welt war so unglaublich einfach geworden. Man musste das fremde Leben nicht mehr unter großen Strapazen ins neue Land begleiten, sondern konnte es leicht über das im 19.Jahrhundert sich schnell verdichtende Netzwerk der Ströme von Waren und Nachrichten mitschicken. Leicht war es geworden, und leichtfertig wurde damit umgegangen.
Kamele nach Brasilien, Alpakas nach Frankreich, Oliven nach Kalifornien. Das 19.Jahrhundert markierte einen Wendepunkt und löste einen wahrlichen Rausch unter Abenteurern und Wissenschaftlern aus. Nicht mehr einzelne, sondern eine Vielzahl von Arten wurden zwischen den Kontinenten ausgetauscht, nicht selten um die Luxusbedürfnisse der wohlhabenden Bevölkerung zu befriedigen.
Biologische Gleichmachung
Sogenannte Akklimatisationsgesellschaften machten sich zum Ziel, die heimische Flora und Fauna durch Einfuhr neuer, exotischer Arten zu verändern. Erst gegen Mitte des 20.Jahrhunderts wich man langsam vom Ziel einer globalen biologischen Angleichung der Natur zurück. Vielleicht auch deshalb, wie der Autor lakonisch feststellt, weil es zu einem guten Teil bereits erreicht war. Denn für unzählige endemische Arten kam dieses Umdenken bereits zu spät.
Einige Arten jedoch, in ihrer Heimat selten geworden, verbreiteten sich anderorts prächtig und vermittelten den Eindruck eines Gewinns an Vielfalt. Die Honigbiene, der europäische Star, oder die Felsentaube, sie alle sind Beispiele dafür, wie eine Art sich erfolgreich durchsetzen kann und somit letztlich zur Gefahr wird. Sie siedelten sich weltweit an, verdrängten und dezimierten sukzessive endemische Arten und sind somit zum Inbegriff der allgegenwärtigen Fauna einer globalisierten Welt geworden.
Fügt sich eine für den Menschen nützliche Spezies nicht optimal in den neuen Lebensraum ein, hilft dieser gerne nach. Die Zucht immer neuer, noch widerstandsfähiger und effizienterer Arten lässt wenig Platz für die Natur in ihrer Ursprünglichkeit. Nutztiere und Kulturpflanzen beanspruchen fremde Lebensräume für sich und verdrängen dabei die meist schwächeren, heimischen Arten.
Artensterben bedeutet Kulturverlust
Dass es aber zum endgültigen Aussterben einer Spezies kommt, ist von vielen Faktoren abhängig. Neben eingeschleppten Tieren und Pflanzen, die die endemischen Arten in einem ständigen Konkurrieren um Nahrung, Nistplätze und Lebensraum immer mehr verdrängen, ist vor allem die Umgangsweise des Menschen mit der Flora und Fauna eines Landes dafür verantwortlich. Letztlich verarmt dabei aber nicht nur die Natur.
Artensterben, so Marcel Robischon, bedeutet auch immer einen kulturellen Verlust. Sprache, Bilder und Vorstellungen gehen verloren. Je einheitlicher die Natur, umso einheitlicher auch unsere Geschichten, umso ärmer unsere Geisteswelt.
Zitat
Wir zerstören unseren kulturellen Reichtum um des Einheitlichen, leicht zu Fassenden willen. Wir zerstören gleichzeitig den biologischen Reichtum, und tatsächlich könnte beides jeweils ein Aspekt desselben Vorgangs sein. Wir tauschen das Einzigartige gegen das Beliebige.
Heute gibt es mehr Sprachen, mehr Kulturen, mehr Arten an einem einzelnen Ort als jemals zuvor. Doch auch wenn die Globalisierung den Anschein von Vielfalt erweckt, so geht gerade das, was einzigartig ist, doch immer mehr verloren.
Spätes Umdenken
Aber Hoffnung besteht. Alte Arten werden wiederentdeckt, noch immer neue gefunden. Die Entwicklung der letzten Jahre macht deutlich, dass es immer mehr Versuche gibt, die einzigartigen Landschaften wieder aufzubauen und ihre Tiere und Pflanzen zu schützen.
Zitat
Jedes Auffinden eines Wesens, das als ausgestorben galt, jede Wiederentdeckung eines vergessen geglaubten Wortes ist wie die Entdeckung eines weiteren Pinselstrichs auf der Leinwand eines stark beschädigten Gemäldes, ein Satz aus einer vergessenen Geschichte, der Erinnerungen weckt.
Das Abenteuer, so Robischon, ist noch lange nicht zu Ende.
Akribisch, wie es sich für einen Naturwissenschaftler gehört, beschreibt Marcel Robischon das Aussterben der Arten. Lateinische Bezeichnungen reihen sich oft Zeile an Zeile. Der Laie lernt, darüber hinweg zu lesen. Aber Robischon ist auch ein Philosoph und Geschichtenerzähler, der uns förmlich in die alte Welt der Abenteuer hineinzieht, dessen Bildsprache unsere Fantasie beflügelt.
"Vom Verstummen der Welt" beschönigt nicht, aber es liest sich weniger mit schlechtem Gewissen als vielmehr mit einer Begeisterung für die Vielfalt und Einzigartigkeit, die sich bis heute auf unserer Erde finden lässt.
Service
Marcel Robischon, "Vom Verstummen der Welt: Wie uns der Verlust der Artenvielfalt kulturell verarmen lässt", Oekom Verlag
Oekom Verlag - Vom Verstummen der Welt