Libyen: Erste Wahl seit Sturz Gaddafis

Erstmals seit dem Sturz des früheren Machthabers Muammar al-Gaddafi sind die Libyer am Samstag zur Wahl aufgerufen. Gewählt wird der Nationalkongress, die für die Verfassunggebende Versammlung. Um die 200 Mandate bewerben sich 3.700 Kandidaten. Rund 2,7 Millionen ließen sich auf die Wählerliste setzen.

Mittagsjournal, 6.7.2012

Aus Libyen berichtet

Vorbereitung für Volksabstimmung

Gaddafi war 1969 durch einen Putsch an die Macht gelangt und im vergangenen Jahr nach einem mehrmonatigen Volksaufstand im Oktober auf der Flucht getötet worden. Seither wird das Land von einem Nationalen Übergangsrat regiert. Die Verfassunggebende Versammlung soll bei ihrem ersten Zusammentreten vom Nationalen Übergangsrat die Macht übernehmen, sodann eine Übergangsregierung einsetzen und innerhalb von vier Monaten mit Zwei-Drittel-Mehrheit eine Verfassung beschließen. Diese neue Verfassung bedarf dann noch der Annahme durch eine Volksabstimmung. Zu den wichtigsten Diskussionspunkten bei den Beratungen über die Verfassung dürften die Regierungsform, die Bedeutung des Islam in Staat und Gesellschaft, die Rolle der Frau und die Rechte von Minderheiten gehören.

EU "beurteilt" die Wahl

Von den 200 Mitgliedern der Verfassunggebenden Versammlung werden 100 im Westen des Landes, 60 im Osten und 40 in den südlichen Wüstengebieten gewählt. Dabei sind 120 Mandate für unabhängige Kandidaten (insgesamt 2.500) und 80 für Vertreter von Parteien und anderen politischen Organisationen reserviert. Für das Verfahren wurden 72 Wahlbezirke festgelegt. Unter den 3.707 zur Wahl zugelassenen Kandidaten sind 629 Frauen, auf den Listen der Parteien ist jeder zweite Platz einer Frau vorbehalten.

Der Wahlgang wird von einer EU-Beurteilungsmission unter Leitung des deutschen FDP-Europaabgeordneten Alexander Graf Lambsdorff beobachtet. Der Mission gehören 21 Experten an. Eine Wahlbeurteilung wird anstelle einer Wahlbeobachtung vorgenommen, wenn die Sicherheitslage eine große Mission mit Lang- und Kurzzeitexperten nicht zulässt.

Eigene Kriterien

Die meisten politischen Formationen sind für die Bevölkerung neu. Die Mehrzahl der Mandate dürfte daher voraussichtlich nicht nach Parteizugehörigkeit und programmatischen Aussagen, sondern nach dem Wiedererkennungswert der Kandidaten und ihrer Glaubwürdigkeit ausgewählt werden. Im Osten Libyens herrscht Unmut über die geringere Anzahl der dort vergebenen Mandate im Vergleich zum Westen, was bereits zu Boykott-Aufrufen führte.

Nach der Annahme der Verfassung soll die Verfassunggebende Versammlung innerhalb von 30 Tagen ein neues Wahlrecht verabschieden. Danach soll innerhalb eines halben Jahres eine neue Regierung gewählt werden. Insgesamt würde die Übergangszeit für die Neustrukturierung der politischen Landschaft somit knapp ein Jahr dauern.