Kommentar zu Lukas 1, 39 - 56
Dieses Magnifikat Mariens, überliefert vom Evangelisten Lukas, ist ein revolutionäres Eingeständnis des Glaubens an Gott, des Glaubens Mariens als erste der Berufenen und des Glaubens aller Menschen quer durch die Generationen.
8. April 2017, 21:58
Nicht das Mächtige, Überhebliche und Stolze werden siegen, nicht die Unterdrücker, die Ausbeuter der Menschen, keine der unmenschlichen Ideologien werden diese Welt verändern, nicht das Reiche und Schöne gibt dem Menschen eine Lebensstruktur. Gott erhöht das Niedrige, die Schwachen macht er stark. Er stürzt die Mächtigen vom Thron und zerstreut die hochmütigen Herzen. Die Reichen lässt er letztlich leer ausgehen und die an Leben Hungrigen, die Armen, wird er reich beschenken.
Diese Grundwahrheit über Gott und über den Menschen ist keine Exklusivgeschichte des Glaubens und keine Flucht in religiöse Idealvorstellungen. Maria aus Nazaret ist eine historische Person. Sie ist Mutter Jesu, von Gott gerufen und berufen, wie es in der Bibel lautet, und sie war bereit, diesen Ruf anzunehmen, das heißt: ihr Leben ganz auf Gott hin auszurichten, in den Heils- und Unheilsmomenten ihres Lebens, in den Lebenserfahrungen von Gottferne und Gottnähe. Das Leben dieser Frau aus Nazaret wurde so in der christlichen Tradition zum Symbol für alle glaubenden Menschen, die für Gott und sein Wirken offen sind. Maria wird auch zum Symbol der ganzen Schöpfung, die sich nach Gott, ihrem Ursprung und ihrem Urbild sehnt und das Lob Gottes singt: "Meine Seele preist die Größe des Herrn und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter. Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut. Siehe, von nun an preisen mich glücklich alle Generationen!"
Ich glaube: Nichts Gutes, auch wenn es sterblich ist, geht für immer verloren. Nicht "Verwesung" ist die letzte Bestimmung des Menschen und der Schöpfung, sondern "Verwesentlichung": Gott will - auf eine Weise, die nur er kennt - alles, was er erschaffen hat, zur Entfaltung und Vollendung bringen, in seine Herrlichkeit aufnehmen.
Diese universale christliche Hoffnung sehen viele Christinnen und Christen in Maria verwirklicht. Diese Hoffnung und Befreiung, diese Erlösung feiert die katholische Kirche am heutigen Tag. Maria ist zum Inbegriff eines gelungenen Menschen geworden, einer gestaltgewordenen Berufung von Gott her. Alles im Leben des Menschen ist Gnade, ist Geschenk, auch bei Maria. Gott aber ist der, der begnadet und beschenkt, Gott vollendet im Menschen, was Stückwerk, zaghaft und zerbrechlich ist.
Schon vor dem Konzil von Chalcedon im Jahr 451 wurde in der Ostkirche die leibliche Aufnahme Mariens in den Himmel gefeiert. Spätestens seit dem 7. Jahrhundert hat auch die Westkirche dieses Fest am 15. August übernommen. Papst Pius XII. hat 1950 die Aufnahme Mariens in den Himmel zur Glaubenswahrheit erhoben, natürlich sollte das im ökumenischen Gespräch nicht ohne Spannungen bleiben.
Abseits von manchen theologischen Winkelzügen, die sicher auch ihre Berechtigung haben, bleibt die große Frau, die von Gott Begnadete, Maria, als Hoffnungsgestalt, als Kompass auf dem Pilgerweg durch die Zeit, als von Gott Gesegnete, als die Berufene, die in ihrem ganzen Leben zur Christusträgerin geworden ist, als eine ganz von Gott In-Anspruch-Genommene, die in Freiheit ihr "Ja" gesagt hat, für viele Christen und Menschen, besonders auch für die vielen Armen und Ausgegrenzten dieser Welt eine Lichtgestalt für ein Leben, das viel mehr ist, als die kurze Wegstrecke zwischen Geburt und Sterben.
Es gehört zum Kern des Glaubens aller Christinnen und Christen, dass Jesus Christus nach seinem Tod am Kreuz nicht für sich selbst auferstanden ist, sondern dass er seine Osterherrlichkeit mit allen teilen will. Auferstehung, Leben in Fülle bei Gott - das betrifft alle an Christus Glaubenden, vielleicht auch noch viele andere Menschen. Es ist ein universales Geschehen, eine Wirklichkeit, die für den menschlichen Intellekt zu groß ist, aber der Wirklichkeit Gottes entspricht. Maria darf seit Beendigung ihres irdischen Lebens voll und ganz, mit Leib und Seele an der Herrlichkeit ihres auferstandenen Sohnes teilhaben, so der Glaube der Kirche. Sie ist schon ans Ziel aller Wege gelangt, wohin die Menschen noch unterwegs sind. Sie ist die schon Erlöste, an ihr hat Gott schon wahr gemacht, was den Glaubenden noch geschenkt und gegeben wird: die Teilhabe an der Auferstehung Jesu Christi. Dieser Glaube sagt, Gott will den ganzen Menschen bei sich haben, den Menschen auch in seiner Leiblichkeit und mit seiner ganz konkreten Lebensgeschichte. Gott hat keine Berührungsangst vor den Menschen und ihren Lebensentwürfen, auch nicht vor dem, was den Menschen als Gottes Ebenbild entstellt.
Ich bin fest davon überzeugt, das Evangelium vom heutigen Fest der Aufnahme Mariens in den Himmel, dieses Magnifikat Mariens könnte zu einem Lebenslied des glaubenden und Gott-suchenden Menschen werden. Nichts im Leben wird verdrängt, behübscht oder beschönigt. Aber das Leben, das sich nach Gott sehnt und Gott sucht, findet Erfüllung, erhält eine neue Gestalt in der Gegenwart Gottes. Der Himmel ist eine Wirklichkeit, die dem Leben des glaubenden Menschen nicht fremd sein sollte, sie ist eine Wirklichkeit, die provoziert, herausfordert: Das Leben, auch dein und mein Leben ist viel mehr als das Eingespanntsein zwischen Daten und Fakten, zwischen Aufatmen und Verzweiflung, zwischen Größe und Elend - es findet sein Ziel in der Begegnung mit Gott. Das aber bleibt Gnade und Geschenk. In Maria ist diese Gnade Gottes Gestalt geworden. Die leibhafte Liebe Gottes in Jesus Christus hat in dieser Frau aus Nazaret glaubwürdige Konturen angenommen.
Das Magnifikat Mariens ist Einladung und Provokation Gottes an die Menschen. Wenn es nicht mehr gesungen oder gestottert werden könnte, so denke ich, würde auch unser Menschsein ärmer werden.