Ines Geipel zur Schule des Tötens
Der Amok-Komplex
Ein Mann geht in der US-amerikanischen Stadt Aurora zu einer Filmpremiere des Blockbusters "Batman", wirft Tränengas in die Menge und schießt wild um sich. Zurück bleiben zwöl Tote und 58 Verletzte. Motiv: unklar, der Täter schweigt. In Norwegen wird demnächst das Gerichtsurteil gegen Anders Breivik erwartet. Er hat vor einem Jahr auf der Insel Utöya 77 Jugendliche ermordet. Motiv: Hass auf Ausländer und Linke.
8. April 2017, 21:58
Was bringt Menschen dazu, so etwas zu tun? Ist der Amoklauf Teil unserer westlichen Gesellschaft geworden? Diesen Fragen geht die deutsche Autorin Ines Geipel nach. In ihrem Buch "Der Amok-Komplex oder die Schule des Tötens", beschäftigt sie sich exemplarisch mit fünf aufsehenerregenden Amokläufen der vergangenen zwei Jahrzehnte: dem Fall Breivik im norwegischen Utoya vergangenes Jahr, dem Massenmord von Martin Bryant im australischen Port Arthur 1996, sowie in den Amokläufen von Teenagern in drei deutschen Schulen: Erfurt 2002, Emsdetten 2006 und Winnenden im Jahr 2009.
Detailreiche Schilderungen
Man braucht schon starke Nerven, um das Buch nicht gleich im ersten Kapitel wieder auf die Seite zu legen. Denn Ines Geipel beschreibt detailreich. Quälend detailreich. Neun Seiten dauert der Amoklauf von Martin Bryant im australischen Touristenort Port Arthur, elf Seiten jener am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt. Geipel geht Mord für Mord durch, Schuss für Schuss. Fast so, als wäre sie selbst dabei gewesen.
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Der Schütze läuft hoch zur ersten Etage, die Gänge entlang, stürmt weiter in den zweiten Stock, eine dicke, rote Rauchsäule hinter sich herziehend. Das Ziel ist klar: die Chemieräume. Hatte ihm niemand gesagt, dass gerade diese Türen besonders gesichert sind? Er findet keinen Zugang. Die Gasanschlüsse - ein Zentralsystem der Schule - bleiben ihm verwehrt. Von nun an gleicht die Operation einem wirren Streunen durch das ehemalige Schulterrain.
Aus guten Familien
Akribisch genau beschreibt die Autorin auch das Leben der Täter und ihr Umfeld: die Familie, die Hobbys, welche Musik sie gehört haben, welche Websites sie besucht haben. Alle Täter waren Männer, soziale Außenseiter, schon als Kinder etwas verhaltensauffällig. Sie hatten einen Fetisch für Waffen beziehungsweise Gewaltspiele am PC und sie alle taten sich schwer, Mädchen kennenzulernen. Doch: Kaum einer der beschriebenen Mörder hatte demnach ein extrem problematisches Elternhaus. Geipel beschreibt normale Eltern, die sich bemühen - aber scheitern.
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Die Täter sind keine Monster, Dämonen oder Teufels-Killer. Sie haben mit 17 ein Auto, eine Doppeletage im Haus der Eltern oder ein dickes Konto. Amokläufer töten aus unserer Mitte heraus.
Nachrichten für die Welt
Die Motive für ihre Tat erzählen die Protagonisten selbst. Neben unzähligen Polizeiprotokollen hat die Autorin auch das Tagebuch von Sebastian Bosse studiert, des Attentäters von Emsdetten. "Meine Handlungen sind das Resultat eurer Welt", schreibt er da, "einer Welt, die mich nicht sein lassen will, wie ich bin." Auch der Amokläufer von Winnenden hinterlässt der Welt eine Nachricht. Wenige Wochen vor der Tat liest er in einer deutschen Online-Community die Geschichten anderer Mobbing-Opfer. Auch von Amoklauf ist da die Rede.
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Tim Kretschmer schreibt in seiner krakeligen Kinderschrift auf einen Zettel: "Es gibt Behauptungen, warum es solche Menschen gibt. 1. Man wird so geboren. 2. Man wird dazu gemacht. Die Wahrheit ist, man hat es schon in sich, aber es kommt nur heraus, wenn das Gemachte dazukommt." Sein geistiger Nachlass. Konkreter wird er nicht. Er legt das einzelne Blatt in den Tresor in seinem Zimmer. (...) Ein Schatz, der dazu da ist, um später einmal gefunden zu werden. Während der polizeilichen Ermittlungen wird das Papier die Spur mit der Nummer 244.
Aufmerksamkeit heischen
Eines wollen die Täter allesamt: endlich Aufmerksamkeit. Anders Breivik, der Attentäter von Norwegen zum Beispiel veröffentlicht vor der Tat ein 1.500-seitiges Manifest im Internet. Ein Vorbild für viele jugendliche Amokläufer: die Geschehnisse in der US-amerikanischen High School Columbine im Jahr 1999. Genau studieren sie im Internet das Video aus der Columbine-Cafeteria, das die vermummten Täter zeigt. In einschlägigen Foren macht es die Runde.
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Die Community ist mittlerweile nicht nur in der Lage, Anleitungsvideos für den nächsten Amoklauf aus dem Internet herunterzuladen, sondern hat auch ein virtuelles Amok-Ranking eingerichtet. Es verschiebt sich je nach Aktualität. Lange Zeit hält Columbine Platz 1, Erfurt steht gleich dahinter. Wer Resonanzräume wie diese toppen will und zu maximieren plant - was alleiniger Sinn und Zweck der Schule des modernen Tötens ist -, wird sich etwas einfallen lassen.
Mediale Inszenierung
Geipel beschreibt den Amok-Komplex als lernendes System, das nicht aufhören wird, die Gesellschaft mit neuen Handlungsmodellen zu schocken. Die mediale Inszenierung der Tat spielt dabei eine große Rolle. Der Amoklauf von Winnenden im Jahr 2009 dauerte mehrere Stunden. Während die Polizei im Gebäude versuchte, den Täter zu stellen, richtete man in der Sporthalle direkt neben der Schule ein Pressezentrum ein. Die Journalisten wurden zu Teilnehmern des laufenden Geschehens.
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Da es regnete, wurden neben den Übertragungswagen Zelte aufgebaut. Es sei wie auf dem Campinplatz gewesen. Keinerlei Betroffenheit, eher umgekehrt: gelöste Stimmung. Man war dabei, sich einzurichten. 40 Teams, riesige Satellitenschüsseln, alles ohne sanitäre Einrichtungen. Da sei nichts anderes als medialer Katastrophentourismus gewesen, sagt die Journalistin.
Ines Geipel erzählt im Amok-Komplex viel über den Umgang unserer Gesellschaft mit dem Thema Amoklauf: Geschichten von Polizeiversagen, Geschichten vom kollektiven Verdrängen. Doch eines kann die Autorin - trotz ihrer umfangreicher Recherchen - letztlich doch nicht erklären: was der ausschlaggebende Faktor ist, der frustrierte Menschen zu Amokläufern werden lässt.
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Ines Geipel, "Der Amok-Komplex oder die Schule des Tötens", Klett-Cotta
Klett-Cotta - Der Amok-Komplex