Ines Geipel zur Schule des Tötens

Der Amok-Komplex

Ein Mann geht in der US-amerikanischen Stadt Aurora zu einer Filmpremiere des Blockbusters "Batman", wirft Tränengas in die Menge und schießt wild um sich. Zurück bleiben zwöl Tote und 58 Verletzte. Motiv: unklar, der Täter schweigt. In Norwegen wird demnächst das Gerichtsurteil gegen Anders Breivik erwartet. Er hat vor einem Jahr auf der Insel Utöya 77 Jugendliche ermordet. Motiv: Hass auf Ausländer und Linke.

Was bringt Menschen dazu, so etwas zu tun? Ist der Amoklauf Teil unserer westlichen Gesellschaft geworden? Diesen Fragen geht die deutsche Autorin Ines Geipel nach. In ihrem Buch "Der Amok-Komplex oder die Schule des Tötens", beschäftigt sie sich exemplarisch mit fünf aufsehenerregenden Amokläufen der vergangenen zwei Jahrzehnte: dem Fall Breivik im norwegischen Utoya vergangenes Jahr, dem Massenmord von Martin Bryant im australischen Port Arthur 1996, sowie in den Amokläufen von Teenagern in drei deutschen Schulen: Erfurt 2002, Emsdetten 2006 und Winnenden im Jahr 2009.

Detailreiche Schilderungen

Man braucht schon starke Nerven, um das Buch nicht gleich im ersten Kapitel wieder auf die Seite zu legen. Denn Ines Geipel beschreibt detailreich. Quälend detailreich. Neun Seiten dauert der Amoklauf von Martin Bryant im australischen Touristenort Port Arthur, elf Seiten jener am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt. Geipel geht Mord für Mord durch, Schuss für Schuss. Fast so, als wäre sie selbst dabei gewesen.

Aus guten Familien

Akribisch genau beschreibt die Autorin auch das Leben der Täter und ihr Umfeld: die Familie, die Hobbys, welche Musik sie gehört haben, welche Websites sie besucht haben. Alle Täter waren Männer, soziale Außenseiter, schon als Kinder etwas verhaltensauffällig. Sie hatten einen Fetisch für Waffen beziehungsweise Gewaltspiele am PC und sie alle taten sich schwer, Mädchen kennenzulernen. Doch: Kaum einer der beschriebenen Mörder hatte demnach ein extrem problematisches Elternhaus. Geipel beschreibt normale Eltern, die sich bemühen - aber scheitern.

Nachrichten für die Welt

Die Motive für ihre Tat erzählen die Protagonisten selbst. Neben unzähligen Polizeiprotokollen hat die Autorin auch das Tagebuch von Sebastian Bosse studiert, des Attentäters von Emsdetten. "Meine Handlungen sind das Resultat eurer Welt", schreibt er da, "einer Welt, die mich nicht sein lassen will, wie ich bin." Auch der Amokläufer von Winnenden hinterlässt der Welt eine Nachricht. Wenige Wochen vor der Tat liest er in einer deutschen Online-Community die Geschichten anderer Mobbing-Opfer. Auch von Amoklauf ist da die Rede.

Aufmerksamkeit heischen

Eines wollen die Täter allesamt: endlich Aufmerksamkeit. Anders Breivik, der Attentäter von Norwegen zum Beispiel veröffentlicht vor der Tat ein 1.500-seitiges Manifest im Internet. Ein Vorbild für viele jugendliche Amokläufer: die Geschehnisse in der US-amerikanischen High School Columbine im Jahr 1999. Genau studieren sie im Internet das Video aus der Columbine-Cafeteria, das die vermummten Täter zeigt. In einschlägigen Foren macht es die Runde.

Mediale Inszenierung

Geipel beschreibt den Amok-Komplex als lernendes System, das nicht aufhören wird, die Gesellschaft mit neuen Handlungsmodellen zu schocken. Die mediale Inszenierung der Tat spielt dabei eine große Rolle. Der Amoklauf von Winnenden im Jahr 2009 dauerte mehrere Stunden. Während die Polizei im Gebäude versuchte, den Täter zu stellen, richtete man in der Sporthalle direkt neben der Schule ein Pressezentrum ein. Die Journalisten wurden zu Teilnehmern des laufenden Geschehens.

Ines Geipel erzählt im Amok-Komplex viel über den Umgang unserer Gesellschaft mit dem Thema Amoklauf: Geschichten von Polizeiversagen, Geschichten vom kollektiven Verdrängen. Doch eines kann die Autorin - trotz ihrer umfangreicher Recherchen - letztlich doch nicht erklären: was der ausschlaggebende Faktor ist, der frustrierte Menschen zu Amokläufern werden lässt.

Service

Ines Geipel, "Der Amok-Komplex oder die Schule des Tötens", Klett-Cotta

Klett-Cotta - Der Amok-Komplex