Roman von Sibylle Berg

Vielen Dank für das Leben

"Vielen Dank für das Leben" heißt der siebente Roman von Sibylle Berg, in dem sie vom Leben des Hermaphroditen Toto erzählt, das vom grauen Elend der DDR über ein mitleidloses Hamburg bis in ein apokalyptisches Paris des Jahres 2030 führt.

Das Kind Toto, von dem hier die Rede ist, wird ein Junge. Allerdings einer mit hoher Stimme und dicklich-weicher Gestalt. Eine schlechte Ausgangslage für ein Leben in der DDR der späten 1960er Jahre. Als seine Mutter, eine Trinkerin, stirbt, kommt Toto in ein Kinderheim. Dort beginnt die leidvolle Odyssee dieses sanften Menschen, der von Anfang an zum Außenseiter verdammt ist.

Ausgenütze Gutmütigkeit

In Kinderheim und Schule ist Toto - obwohl einen Kopf größer als die anderen Kinder - deren Sadismus ausgeliefert. Kurz scheint eine Freundschaft mit dem Heimkind Kasimir möglich, das sich nachts Trost suchend an ihn schmiegt, bis Kasimir, unter Gruppendruck geraten, Toto verrät. Die Heimleiterin verkauft Toto schließlich an ein saufendes, sich prügelndes Bauernpaar. Toto flieht und wird von Mitgliedern einer westdeutschen Kommune auf DDR-Ausflug in die Bundesrepublik geschmuggelt. Aber auch dort wird es nicht besser.

Er landet in der Hamburger Halbwelt, tritt als Sänger in Punkclubs auf, angegafft von schaurig erregten Yuppies. Seine Wohnungen sind unwirtlich, dreckig, die ihn umgebenden Menschen kaputt. Totos Gutmütigkeit wird überall ausgenutzt. Als Kasimir - inzwischen ein schwerreicher Hedgefonds-Manager - auftaucht, glaubt Toto, endlich einen Freund gefunden zu haben; dieser plant jedoch seine Zerstörung. Eine Geschlechtsumwandlung und einen kurzen Ausflug ins Luxusleben später, landet Toto unter den Brücken der Seine und stirbt schließlich in einem Obdachlosenheim.

Außer der Norm

"Vielen Dank für das Leben" ist die Geschichte eines Menschen, der am Druck der Norm zerbricht. Toto geht durch Gesellschaften, die von unterschiedlichen Ideologien und Zeiten geprägt sind, die aber eines gemeinsam haben: geschlechtliche Uneindeutigkeit wirkt in ihnen tief verunsichernd, denn die geschlechtliche Zuordnung wurde zur stärksten aller Normen gemacht.

Der Grund warum Toto überall abgelehnt und angefeindet wird, liegt aber nicht nur in seiner verstörenden Erscheinung, er liegt auch in seinem Wesen. Toto kann keine Wut empfinden. Ob als Er oder als Sie, Toto lässt sich alles gefallen, hat sogar noch Verständnis mit seinen bzw. ihren Peinigern. So auch mit jenen betrunkenen Männern, die nach einer Firmenfeier auf Toto einprügeln.

Unschuld und Wehrlosigkeit

Totos Wesen besteht ganz aus Unschuld und Wehrlosigkeit. Und aus der Weigerung, etwas zu wollen. Dadurch ist es bei aller Angegriffenheit erstaunlich robust.

Die Figuren in Sibylle Bergs Roman besitzen mit Ausnahme von Toto und Kasimir wenig Tiefe, das brauchen sie auch nicht, denn ihre Aufgabe ist es nicht, möglichst lebendig zu sein, sondern möglichst typisch. Sie sind nur Stationen auf Totos Leidensweg, Ablagerungen eines Flusses katastrophaler gesellschaftlicher Entwicklungen. Diesen widmet sich die Autorin mit Furor - in wuchtig gemeißelten Sätzen. Ein literarischer Wutausbruch.

Sehnsucht nach Nähe

Dem gegenüber steht das Erleben der Hauptfigur, das mitunter mit psychologischer Raffinesse geschildert wird. So zum Beispiel, wenn Toto - der ungeschlechtliche Mensch - sich nach Nähe sehnt.

Dennoch bleibt die Figur Toto seltsam schemenhaft. Gequält und doch innerlich stets unangetastet vom sie umgebenden Bösen, ist sie kompromisslos gütig und dem Leid ergeben - das sind die Grundzüge eines Märtyrers. Ein Märtyrer löst aber kein Mitleid aus. Toto verkörpert das gute Prinzip, ein wirklicher Mensch ist er nicht, denn ein solcher wird durch fortwährende Misshandlung nicht zum Heiligen sondern eher zum Gegenteil.

Das Böse

Kasimir, Totos abgründig verliebter Gegenspieler, verkörpert das böse Prinzip, trägt aber in seiner Ambivalenz etwas menschlichere Züge. Er will sich von jeder Moral befreien und mit ihr von den - wie er denkt - Wurzeln seiner Homosexualität, mit der er nur schwer zurechtkommt. Kasimir will das Objekt seiner Begierde vernichten. Dennoch liebt er Toto.

Solch komplizierte Gefühle kann Kasimir nicht gebrauchen, sie stören das reibungslose Funktionieren in den dünnluftigen, kalten Regionen des Wertpapierhandels.

Pessimistische Zeitkritik

Es geht weniger um die Figurenzeichnung in diesem Text, auch der Plot ist zu vernachlässigen - insbesondere die haarsträubende Verschwörungsgeschichte rund um Kasimir - das Hauptgewicht liegt auf einer harten, pessimistischen Zeitkritik. Die Menschenverachtung und Tristesse der DDR, das oft lächerliche Scheitern politischer Utopien im Westen der 1980er Jahre, der allumfassende Konsumwahn der 1990er Jahre und schließlich die Globalisierung, der Neoliberalismus, die Klimakatastrophe und die zunehmende Künstlichkeit menschlicher Lebenswelten: das sind die Hauptprotagonisten des Textes.

Folgerichtig ist der Zukunft gleich ein Drittel des Romans gewidmet. Und diese ist düster. Im Jahre 2030 fotografieren chinesische und indische Touristen das malerische Elend in den bewohnten Parkhäusern des verarmten Europa. Freie Natur gibt es keine mehr, nur mehr Bioerlebniswelten. Medikamente sorgen für eine Schlafreduktion auf vier Stunden, was mehr Zeit für Arbeit und Fitness ermöglicht. Diese Leistungsfähigkeit braucht es auch, um eine kleine Wohnung finanzieren zu können. Zu erleben gibt es ohnehin nichts mehr, die Menschen sind pränatal reparierte, ruhiggestellte Konsumenten, gleichgültig bis ins Mark.

Gewagter Spagat

Einen Roman mit einer Hauptfigur und gleichzeitig ein Pamphlet zum Irrsinn gegenwärtiger wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen zu schreiben, erfordert einen gewagten Spagat. Dem wird nicht nur die Plastizität der Figuren geopfert, sondern vor allem die Schlüssigkeit der Erzählperspektive. Die auktoriale Erzählinstanz ist beispielsweise ironisch, wo Toto - da noch Kleinkind - nicht ironisch sein kann, sie denkt vor dem Hintergrund zeitgenössischer westlicher Erfahrungen, obwohl Toto die DDR noch nicht verlassen hat, sie fällt zornige Urteile, obwohl Toto zu keinem Zorn fähig ist.

Das Problem dieses Textes ist daher: Wer erzählt hier eigentlich? Der Leser wird mit Toto auf die Reise durch eine grausame Welt geschickt, ohne die Figur wirklich begleiten zu können, denn diese verschwindet hinter den zynischen Kommentaren einer Erzählerin, der es mehr um diese grausame Welt geht, als um die Figur, die sich durch sie bewegt. Diese Kommentare sind - wie bei Sibylle Berg nicht anders zu erwarten - scharf, eigensinnig, hellsichtig und pointiert. Beste Polemik eben. Bausteine für einen stringenten Roman sind sie nicht.

Service

Sibylle Berg, "Vielen Dank für das Leben", Hanser Verlag

Hanser - Vielen Dank für das Leben