Paraflows: "Reverse Engineering"

In Wien wird heute Abend die siebte Ausgabe des Festivals Paraflows eröffnet. Das Festival für digitale Kunst und Kultur ist diesmal dem Thema "Reverse Engineering" gewidmet. Das ist ein Begriff, der etwa in den Bereichen EDV und Maschinenbau zur Anwendung kommt, und die Umdrehung von Entwicklungsprozessen bezeichnet.

Kulturjournal, 13.9.2012

Paraflows findet jedes Mal an einem anderen Ort in Wien statt - heuer ist es zu Gast beim Kunstverein Das Weiße Haus, der derzeit in einer ehemaligen Schule in der Argentinierstraße 11 untergebracht, die früher eine HTL mit Schwerpunkt IT und Mechatronik war. Seit April wird die aus mehreren Gebäuden und einem begrünten Hof bestehende Anlage vom Kunstverein Das Weiße Haus genützt, der jetzt Gastgeber des Festivals Paraflows ist. Eine der Paraflows-Kuratorinnen ist die Künstlerin Judith Fegerl. Ihrer Meinung nach, sind die Klassenzimmer "Räume, die rudimentär von dieser Schultätigkeit zeugen, das sehr gut zum Thema passt und zu der Herangehensweise, die wir für das heurige Festival gewählt haben."

Das diesjährige Thema heißt "Reverse Engineering". Das ist ein Begriff, der auf viele Wissensgebiete anwendbar ist. Anhand des Endresultats wird der Bauplan offengelegt. Laut Judith Fegerl analysiert man beim "Reverse Engineering" ein bestehendes System und versucht, dies dann zu rekonstruieren. "Was mich besonders interessiert hat, ist der künstlerische Zugang. Kunst", erklärt sie weiter, "reagiert – ob auf das Umfeld, auf bestehende Themen oder Probleme, oder auf andere Kunst, ob als Zitat, Weiterentwicklung oder Analyse. Es geht also um Ursprünge und Vorbilder, um die Materie, aus der sich künstlerische Arbeiten nähren."

Der Versuch, Gedanken zu deuten

Die amerikanische Künstlerin Jen Liu hat sich in der ehemaligen Schule auf Spurensuche gemacht. Gefunden hat sie zum Beispiel ein gerahmtes Foto, das ein sonderbares Stillleben zeigt, aber auch eine rätselhafte Inschrift. In eine Wand wurden die Buchstaben "DD" eingebrannt. Was die Bedeutung der Buchstaben sein könnte und wer sie unter welchen Umständen verewigt hat – das sind Fragen, die Jen Liu in ihrer Installation streift, jedoch ohne vorgefertigte Antworten, etwa in Form einer Geschichte, anzubieten. Die Künstlerin will die Ungewissheit vermitteln, die sowohl Spekulationen über die Vergangenheit, als auch die Unbestimmtheit der Zukunft eigen sind.

Von der Decke hängen, etwa auf Kniehöhe, einzelne Fliesen, auf denen jeweils ein mit Wasser gefülltes Glas steht. In unregelmäßigen Abständen klopfen digital gesteuerte Esslöffel auf das Glas. Diese Arbeit der isländischen Künstlerin Anna Frida Jonasdottir heißt "Thought interpreter", also Übersetzer oder Deuter von Gedanken. Das Lesen von Gedankengängen oder Gefühlsregungen, sagt Jonasdottir, sei unmöglich, da sie keinem Muster unterliegen – ebenso wenig wie die Bewegungsfrequenz ihrer Installation.
Anna Frida Jonasdottir beschäftigt sich mit dem Themenfeld "Kunst und Wissenschaft".

Für ihre künstlerischen Arbeiten recherchiert sie zu Fachbereichen wie Quantenphysik, Neurologie und Mikrobiologie. Antworten auf ihre Fragen seien, ihrer Meinung nach, in der Naturwissenschaft jedoch kaum zu finden.

Aufstand der User/innen

Die Paraflows - Ausstellung wird begleitet von einem dichten Programm mit Filmen und Gesprächsrunden im Weißen Haus. Günther Friesinger, Festivalleiter und Kurator des begleitenden Symposiums, sieht in dem Begriff "Reverse Engineering" auch ein gesellschaftspolitisches Potential. Er versteht "Reverse Engineering" als Aufstand der User und Userinnen gegen die Systeme.

Unter System versteht er vieles, ob es nun Hardware oder Software ist. Man will Codes und Systeme offen legen, um sie neu zu gestalten und neu zu erfinden. Dies ist nicht nur auf digitale Technologien anwendbar, sondern auch auf gesellschaftliche Missstände. Als Beispiel nennt Friesinger die Occupy-Bewegung, die Schwachstellen im kapitalistischen System kritisiert und Alternativen fordert, aber auch die erfolgreichen Proteste gegen das Anti- Produktpiraterie-Handelsabkommen ACTA. Er sieht in ACTA einen "Aufstand der User/innen, von dem man öffentlich nichts gehört hat, bis zu dem Moment, wo es beschlossen wurde. Weil es auch nicht hinzunehmen ist, dass ein Kontinent wie Europa seine Bürger/innen unter Generalverdacht stellt."

Im Rahmen von Paraflows gibt es in den kommenden Tagen Vorträge zu Themen wie Bio-Hacking, moderne Demokratie in der EU, Feminismus oder Cyborgs. Ab Montag wird das Festival mit einer Filmschau fortgesetzt, die dem Schaffen weiblicher Filmemacherinnen in Österreich gewidmet ist.