Roman von Rainald Goetz

Johann Holtrop

Dass in deutschen Vorstandsetagen lauter kaputte Menschen, in der Hauptsache Männer, sitzen und es in anderen Ländern auch nicht viel anders aussehen mag, ist die Ansicht von Rainald Goetz.

Diese These vertritt er vehement und in expressiver Wortwahl - gleich zu Anfang seines Romans. Seit der Jahrtausendwende sei das politische und gesellschaftliche Leben von einem Phantasma in Bann gehalten.

Das ist ein einfacher Schluss - fast zu einfach, denkt man. Doch in Wahrheit ist man in der Welt des Spätkapitalismus angekommen. Derjenige, der diesen Schluss als eine Art Maxime betrachtet, ist Johann Holtrop - 48 Jahre alt, Vorstandvorsitzender der Assperg Medien AG. Er herrscht über 80.000 Mitarbeiter weltweit, die Bilanzsumme beträgt 15 Milliarden Euro.

Der Autor Goetz ringt nach Worten – nicht, weil er keine findet, sondern weil er das unfassbare Selbstverständnis des Managementkapitalismus in eine Art hyperrealistische Sprache einfangen möchte, die wiederum den Leser aufrütteln soll. Ohne Zweifel, Rainald Goetz übertreibt, liebt das hyperbolische Sprechen. Damit nähert er sich formal an den Expressionismus und an den Barock an: Exzessive Wortfolgen werden da herausgestoßen, die Menschen, die auftreten und sprechen, sind weniger Individuen als Personifikationen, Allegorien des kapitalistischen Totentanzes. Diejenigen, die sich in diesem Reigen aus Macht und Geld eingliedern sind Untote oder solche, die es werden möchten. Und im Roman gibt es einen Satz, der den gesamten Inhalt als Extrakt widergibt.

Kapitalismus und Kunst

Dem hemmungslosen Kapitalismus mittels Kunst-Prosa begegnen und gleichzeitig zeigen, dass auch Kunst durch den harten Kurs materialistischer Weltanschauung korrumpierbar ist, ist das Ziel des Romans von Rainald Goetz. In vielen Personen, die im Roman auftreten, wird man reale Menschen wiedererkennen, die Heroen und Kapitäne des deutschen Kapitalmarkts gewesen sind: Thomas Middelhoff, Leo Kirch, Reinhard und Liz Mohn - und viele andere mehr. Aber auch konkrete Namen werden genannt, etwa der deutsche Kanzler Gerhard Schröder, der jeden werktätigen Menschen als „Ich-AG“ titulierte. Da dürfen auch Künstler nicht fehlen: Der Maler Neo Rauch etwa, weil diejenigen, die rechtzeitig seine Tafelbilder erworben haben, eine Rendite abschöpften, die am Aktienmarkt kaum zu erzielen ist. Und André Heller, höchst persönlich verwöhnt die Reichen und Schönen mit galanten Abenden der sinnlichen und verzaubernden Varieté-Kunst.

Ein Kind seiner Zeit

Rainald Goetz' Roman "Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft" spielt in den Jahren 1998 bis 2010. Der über 300 Seiten starke Prosatext erzählt vom Aufstieg und Fall des Top-Managers Johann Holtrop.

Holtrop ist ein intelligenter Zeitgenosse, der es versteht, Firmen zu sanieren und Unternehmen als global player aufzustellen. Er ist aber auch selbstverliebt, egomanisch, er begreift sich als Glückskind des Kapitalismus. Erst im Scheitern - Holtrop wird als Vorstandvorsitzender der Assperg AG abberufen - gewinnt die Figur ein Mindestmaß an Menschlichkeit. Geschickt beschreibt Goetz seinen "Holtrop" im Niedergang, so dass der Leser Sympathie und sogar etwas Mitleid mit dieser Figur entwickelt. Doch dann erhält Holtrop seine zweite Chance als Top-Manager. Und Goetz macht klar, dass dieser Mann aus seinen Fehlern und aus den irrwitzigen Geschäftsabläufen des Spätkapitalismus nichts gelernt hat. Holtrop scheitert zum zweiten Mal und damit wird sein persönlicher Totentanz eingeläutet: Geistig verwirrt wirft er sich vor einen fahrenden Zug.

Doch Rainald Goetz möchte zeigen, dass Holtrop eigentlich nur ein Kind seiner Zeit ist. Er agiert mit einem unerschütterlichen Selbstwertverständnis, das auch Politiker dieser Generation auszeichnet.

Und die Vertreter der New Economy machen es den Politikern nach, besser gesagt, machen mit bei diesem Tanz der Eitelkeiten und des bedingungslosen Machterhalts. Die neuen Verhaltensregeln für das gehobene Management lauten demnach so:

Sicher - Rainald Goetz übertreibt bei seiner literarischen Beschreibung der kapitalistischen Gesellschaft unserer Tage. Dieses hyperbolische und hyperrealistische Schreibverfahren macht aber zugleich überdeutlich, an welchen Krankheiten eben diese Gesellschaft leidet. Einen "Johann Holtrop" in Reinkultur wird es kaum geben, aber einzelne Facetten dieses Charakters findet man ohne Zweifel in den Chefetagen von Wirtschaft und Politik. In diesem Sinn ist der neue Roman von Rainald Goetz eine kluge Form von zeitkritischer Literatur wie es sie immer wieder geben soll, ja, muss.

Service

Rainald Goetz, "Johann Holtrop. Abriss einer Gesellschaft von morgen", Suhrkamp / Insel Verlag

Suhrkamp / Insel Verlag - Johann Holtrop