Sem-Sandbergs Meinhof-Biographie

Mit seinem Dokumentarroman "Die Elenden von Lodz" hat der schwedische Autor Steve Sem-Sandberg 2011 Aufsehen erregt. Jetzt erscheint ein weiterer Roman des seit einiger Zeit in Wien lebenden Schweden: "Theres". Es geht darin um Leben und Sterben der RAF-Terroristin Ulrike Meinhof.

Morgenjournal, 21.9.2012

Steve Sem-Sandberg hat viele Jahre lang als Journalist gearbeitet. Seine Erfahrungen als Rechercheur und Redakteur beim "Svenska Dagbladet" sind in seine literarische Arbeit mit eingeflossen. Sem-Sandberg ist ein recherchierender Literat: Narzisstische Nabelschau ist seine Sache nicht. "Ich habe sehr früh in meinem Schriftstellerleben begriffen, dass ich nicht über mich selbst schreiben möchte. Viele Autoren schreiben über ihr eigenes Leben, aber kaum eines der Bücher, die da herauskommen, ist wahnsinnig interessant", erklärt der Autor.

Von Waise zu RAF-Desperado

Und so schreibt Sem-Sandberg über rätselhafte, verstörende, katastrophale Ereignisse der Zeitgeschichte. "Theres", sein Roman über Ulrike Meinhof, ist im schwedischen Original bereits 1996 erschienen. In einer hochkomplexen, aber spannenden O-Ton-Collage, untermischt mit eigenen Analysen und Reflexionen, lässt Sem-Sandberg Kampfgenossen, Anwälte, Richter, Ermittler und Freunde von Ulrike Meinhof zu Wort kommen - und natürlich auch Ulrike Meinhof selbst, hier in einem Interview im Jahr 1967:
"Ich halte die Straße keineswegs für ein besonders geeignetes Mittel, seine Meinung bekannt zu machen. Wenn einem aber nichts anderes übrig bleibt, wenn man nicht über die Millionenauflagen von Springer-Zeitungen und Illustrierten verfügt, dann bin ich allerdings der Ansicht, dass es außerordentlich demokratisch ist, dass Leute die einzige Möglichkeit, die ihnen bleibt, nämlich die Straße, benutzen und öffentlich davon Gebrauch machen."

In seinem Dokumentarroman zeichnet Steve Sem-Sandberg Ulrike Meinhofs Lebensweg nach, von der in prekären Verhältnissen aufgewachsenen Halbwaise und Waise der Kriegs- und Nachkriegszeit, über die junge, wiederbewaffnungskritische Protestantin der 50er Jahre bis hin zur "antiimperialistischen" RAF-Desperado, die die Einführung des Sozialismus im wohlstandssatten Westdeutschland mit politischen Morden und Sprengstoffanschlägen herbeibomben wollte.

Wie konnte aus Ulrike Meinhof, der kämpferischen Humanistin, eine von der linken Popkultur gefeierte Polit-Gangsterin werden, die im Kampf für eine "bessere Welt" buchstäblich über Leichen ging? Das ist vielleicht die zentrale Frage, die Steve Sem-Sandberg in seinem Buch aufwirft.

Hilfe wider Willen

In einer eigentümlichen Dialektik, auch darauf weist Sem-Sandberg hin, hat die "Rote-Armee-Fraktion" der bewaffneten Staatsmacht der 70er und 80er Jahre in die Hände gespielt.

"Die RAF war äußerst nützlich für die deutsche Polizei. Der Sicherheitsapparat ist mit Geld und modernster Technologie hochgerüstet worden. Die 70er Jahre markierten den Beginn des Computerzeitalters, und die deutsche Polizei ist schnell und äußerst effizient mit avancierter Computertechnik ausgestattet worden. Das ist wie Punkt und Kontrapunkt. Das eine ist ohne das andere nicht denkbar. Die RAF hat mitgeholfen, wider Willen natürlich, die deutsche Polizei aufzurüsten. Das ist schon eigentümlich: Ohne es zu wollen hilft die eine Seite der anderen", beschreibt Sandberg die Situation.

Auch wenn Sem-Sandbergs Methode, die Vermischung von Fiktion und Fakten, für Diskussionen Anlass geben wird: Mit "Theres" ist dem schwedischen Romancier ein verstörend-schmerzhaftes Buch gelungen, ein Buch über die Bundesrepublik der 70er Jahre, die uns mit ihren spezifischen Kämpfen und Hysterien doch schon recht fremd geworden ist: das Porträt eines versunkenen Landes.

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Klett-Cotta - Theres