Bekenntnisse eines Tiefstaplers

Das einzige, das ihn dazu qualifiziere, Meinungen über kulturelle Pro-dukte zu äußern, sei sein Status als Fan. Mit diesem Bekenntnis am Ende seines Buches grenzt Jonathan Lethem das Gebiet ab und verteidigt seinen temperamentvollen, Fehler in Kauf nehmenden aber originären Zugang zur Welt.

Die Leidenschaft hinterfrgen

Der wahre Künstler kann eben kein Demokrat sein, und vice versa: de-mokratische Urteile über Kunst gleichen bei allen gut gemeinten Ver-suchen der Quadratur des Kreises. In Wahrheit stellt die Aussage, dass Lethem bloß als Fan beispielsweise Musik hört oder Filme sieht aber den Kern seiner Memoiren in Fragmenten dar: es ist das Bekenntnis eines Tiefstaplers.

Der Fan bleibt bloß bei seiner Leidenschaft stehen. Lethem zeigt sich darüber hinaus jedoch als jemand, der schon im selben Atemzug seine Leidenschaft hinterfragt und ihr auf die Schliche zu kommen versucht. Aus dieser Grundhaltung entstehen Schlaglichter auf dessen eigene Biographie wie auf Zeitgenossen und kulturelle Produkte ‒ eine Grundhaltung, die sich stets der Freiheit des Themas und der Freiheit der Methode bedient.

Ein perfekter Zufall

Lethem verhehlt in seinen Essays nicht, dass er sich als Vertreter einer Generation versteht, der Anfang bis Mitte der 60er Jahre geborenen Liga von US-Autoren: Jonathan Franzen, David Foster Wallace, Donna Tartt, Bret Easton Ellis: sie alle tauchen unter anderen auf in diesem Buch. Etwa erfahren wir, dass die beiden Herren Lethem und Ellis in der Nacht zu Nine-Eleven durch die New Yorker Lokale ziehen ‒ und Lethem schließlich verkatert in seiner Wohnung in Brooklyn durch den Einschlag des ersten Flugzeuges drüben in Manhattan aus dem Schlaf gerissen wird.

Angesichts seiner Essays mutet es beim 1964 geborenen Lethem sogar als perfekter Zufall an, dass just in dessen Geburtsjahr Susan Sontags bahnbrechender Text Notes on camp erscheint, der radikal mit gängi-gen Klischees zur Abgrenzung von Hochkultur und Popkultur gebro-chen hat, etwa jenem.

Musikersklaven

Diese Entscheidung muss und möchte Lethem ebenso nicht treffen. Er liest Borges und Calvino ebenso aufmerksam wie er die Gesten Marlon Brandos im Kino studiert, Bob Dylan zum Interview bittet oder den Godfather of Soul, James Brown ins Studio begleitet.

Eine Perle dieses Buches sind tatsächlich die mit James Brown erlebten Sessions im Jahr 2005 im Studio. Im Versuch die Aura dieses Menschen zu fassen, zugleich zu bannen und Widersprüche in eine Ordnung zu bringen, kommt Lethem dem Geheimnis immer wieder nahe und scheitert. Der Godfather, der seine Musiker wie Sklaven hält, dessen technische Unzulänglichkeiten an der Orgel zu Tage treten, dessen Genie und Scharlatanerie in eins fallen. Lethem ist mit der erschütternden Fremdheit und Intensität des James Brown konfrontiert und verlässt die Szenerie schließlich, als habe er einem Naturereignis beigewohnt ‒ und es überlebt.

Im Zentrum dieser biographischen Essay-Sammlung steht allerdings ein Text Jonathan Lethems, der dem englischen Original den gesamten Buchtitel verdankt: The Ecstasy of Influence, in der Übersetzung: Einflussekstase. In der nahezu als Manifest gehaltenen Schrift offenbart Lethem sein Kunstverständnis und kämpft gegen den Narzissmus des Künstlers samt Überschätzung seiner Originalität an ‒ anhand der Figur des Schriftstellers.

Die Kopie der Kopie

In der immerwährenden Debatte um geistiges Eigentum ‒ nicht nur in der Kunst ‒, um gestohlene Themen, Motive bis zu einzelnen Sätzen, vertritt Lethem damit einen radikalen Eklektizismus, der anders gar nicht möglich sei. Jeder Mensch stehe zwangsläufig in einer Tradition, blicke auf Aussagen und Werke zurück, die vor seiner Zeit getätigt wurden oder entstanden seien, geprägt und beeinflusst hätten.

Der Künstler sei in der Bandbreite kultureller Handlungen und Äußerungen vergleichbar mit einem Auffangbecken. Im Falle von Jonathan Lethem fließen in dieses Auffangbecken Comics, Filme, Science Fiction-Literatur, Romane, Theaterstücke, Gedichte, politische Aussagen und vieles mehr.

Als prototypisch für einen wahrheitsgetreuen Umgang im vielstimmigen Kanon beleuchtet Lethem das Phänomen der Coverversionen bei Popsongs. Bob Dylan berichtet ihm im Interview, dass er grundsätzlich Musikern die Rechte freigibt seine Songs neu aufzunehmen. Ziel ist dabei nicht nur mittels Veränderung Verborgenes aus dem bereits vorhandenen Stück Musik zu schälen, sondern darüber hinaus die Ohren neuer Generationen auf das Original hin zu lenken.

Für die beteiligten Künstler komme es dabei im besten Falle zu einer wechselseitigen Befruchtung. So gibt Dylan unumwunden zu, dass er Arrangements einiger Coverversionen, die die Band The Greatful Dead seiner Songs angefertigt hat, wiederum selbst für das Original verwendet. Unter derlei Betrachtung ist der Begriff "Original" aufgehoben.

Raubt meine Ideen, nicht meine Bücher

Mit Blick auf die Literatur verweist Jonathan Lethem zudem provokant auf ganze Plagiats-Reihen: von Ovids Pyramus und Thisbe zu Shakespaeres Romeo und Julia zu Leonard Bernsteins West Side Story. Dass William Shakespeare die Beschreibung seiner Kleopatra fast wortwörtlich aus Plutarchs Leben des Marcus Antonius abgeschrieben hat, ist nachgewiesen, später kehrt sie leicht verändert in T.S.Eliots Das wüste Land wieder. Wenn es sich um solcherart Plagiate handelt, ruft Lethem begeistert aus, dann wollen wir mehr davon.

Für sich selbst reklamiert der US-Autor im Rahmen seiner Thesen durchaus konsequent: Bitte kopiert meine Bücher zwar nicht, da ich mein Geld damit verdiene also davon lebe, aber raubt meine Ideen ‒ und formt sie um.