Bibelkommentar zu Markus 12, 38 - 44
Jesus von Nazareth war kein Theologe, ja nicht mal ein Akademiker, sondern ein Wanderasket – mit dem scharfen Blick des externen Beobachters. Sein Porträt des „Schriftgelehrten“, des damaligen religiösen Bildungsprofis, ist daher messerscharf und von beinahe zeitloser Gültigkeit.
8. April 2017, 21:58
Sie sind gut ausgebildet, geschmackvoll gekleidet, kommunikativ, rhetorisch geschult, um das eigene Ansehen bedacht, immer auf einem Platz in der ersten Reihe. Hinter der perfekten Fassade tut sich freilich ein Abgrund auf: Der im Markusevangelium geschilderte Schriftgelehrte lebt auf Kosten von Witwen und „frisst deren Häuser auf“ – so der griechische Originaltext.
Man könnte nun versucht sein, diese Passage auf die heutige Wirtschaftskrise anzuwenden: Ist das nicht irgendwie auch ein treffendes Porträt von rücksichtslosen Führungskräften, die einem heute in Politik und Wirtschaft begegnen – quasi als postmoderne Nachfolger des Schriftgelehrten? Und hat nicht die Bankenkrise tatsächlich mit einer Immobilienblase begonnen?
Freilich rentiert es sich, den Text ganz genau zu lesen: Wenn Jesus das Porträt des Schriftgelehrten zeichnet, dann will er in erster Linie seine Jünger warnen und sie belehren. Wovor aber will er sie warnen, und was will er sie lehren? Seine Jünger sind doch mit ihm als Wanderasketen unterwegs und haben mit den Schriftgelehrten nicht viel zu tun. Mir scheint, Jesus wusste nur allzu gut, dass Geltungssucht und Rücksichtslosigkeit im Herzen eines jeden Menschen wohnen, also auch im Herzen seiner Jünger, und ich vermute, wohl auch im Herzen des heutigen Menschen. Ich fühle mich zumindest durchaus ein wenig ertappt... Ich habe wohl einen „Schriftgelehrten in mir“, denn wer säße nicht gerne in der ersten Reihe des Lebens?
Szenenwechsel: Jerusalemer Tempel; Abteilung „Fund-Raising“ ... Jesus befindet sich in der Nähe der sogenannten „Opferkästen“, in die man – vor den Augen und Ohren der Mitmenschen – seinen Solidarbeitrag in klingender Münze einwerfen kann. Es ist ein bisschen wie bei einem adventlichen Charity-Event, wo man unter namentlicher Erwähnung ein Zeichen der Solidarität setzt. Tu Gutes und sprich darüber! Jesus beobachtet die Situation, wiederum aus der Distanz des externen Beobachters, und sieht, wie der durchschnittliche Tempelbesucher Münzgeld einwirft. Ein bisschen Charity ist immer drin! Darauf erscheinen einige Reiche mit Silbergeld und setzen ein beinahe überdeutliches Zeichen der Solidarität. Zuletzt nähert sich eine verarmte Witwe mit zwei unscheinbaren Lepta, dem Kleingeld der Antike.
Unter dem Blickwinkel der Effektivität lässt sich die Situation leicht evaluieren: So richtig ins Gewicht fällt die Spende der wenigen Reichen. Dann ist der Beitrag der Mehrheit nicht zu verachten, denn auch Kleinvieh macht Mist. Und schließlich geht sogar der Beitrag der Witwe in Ordnung; obwohl er ja schon ein bisschen mickrig ist! Die Evaluation Jesu fällt hingegen anders aus: Die Leute und Reichen geben nur vom eigenen Überfluss, also von dem, was übrig ist und sie nicht mehr brauchen. Das ist natürlich eine lobenswerte Sache. Die Witwe aber gibt alles, was sie hat: ihr ganzes „Leben“.
Das Wort „Leben“ aber ist, so scheint mir, ein passender Schlüssel, mit dem ich beide Szenen für mich aufschließen kann: Wo Geltungssucht und Rücksichtslosigkeit das Ruder übernehmen, da bleibt schließlich das Leben selbst auf der Strecke. Solidarität wäre gefragt! Doch erreiche ich echte Solidarität nicht schon, wenn ich nur ein bisschen etwas von dem abtrete, was ich eh nicht brauche? Wie die Witwe müsste ich mich wirklich ins Spiel bringen – mit Haut und Haar, mit meiner Kraft, Zeit, Liebe und Aufmerksamkeit, eben mit meinem Leben.