Jared Diamond zeigt traditionelle Gesellschaften

Vermächtnis

Einst war Jared Diamond auf der Fidschi-Insel Viti Levu und unterhielt sich mit einem Einheimischen, der in den Vereinigten Staaten gewesen war. Dort hat den Inselbewohner manches fasziniert, anderes dagegen abgestoßen. Am meisten befremdet hat ihn der Umgang mit den Alten.

In den ländlichen Regionen der Fidschi-Inseln nämlich leben alte Menschen im Kreise ihrer Angehörigen und Freunde, mit denen sie ihr ganzes Leben verbrachten, oft wohnen sie im Haus ihrer Kinder, die sich um sie kümmern. Zum Beispiel indem sie jenen, die keine gesunden Zähne mehr haben, das Essen vorkauen. Von solcher Fürsorglichkeit kann in den Vereinigten Staaten nicht die Rede sein. Hier werden die Alten oft in ein Altersheim abgeschoben und erhalten nur ab und zu Besuch von ihren Kindern, was den Mann von den Fidschi-Inseln entsetzte: "Ihr werft eure alten Leute und eure eigenen Eltern weg", empörte er sich.

"Manche traditionellen Gesellschaften gestehen ihren älteren Menschen sogar eine noch höhere Stellung zu als die Fidschianer", schreibt Jared Diamond in seinem neuen Buch, das die Lebensweise von Stämmen, die als Jäger und Sammler leben, beschreibt und sie unserer heutigen modernen Welt gegenüberstellt. "Vermächtnis. Was wir von traditionellen Gesellschaften lernen können" ist nicht zuletzt das Resultat ausgedehnter Reisen in exotische Gebiete wie Papua-Neuguinea, die der renommierte Physiologe und Ornithologe seit vielen Jahren unternimmt.

"Ich ging nach Neuguinea im Jahre 1964, weil Neuguinea damals als wildes Land galt, es gab 1.000 Stämme, davon einige noch ohne Kontakt zur Außenwelt", erzählt der Autor. "Also ich ging dorthin wegen des Abenteuers und um die Vögel zu studieren, weil Neuguinea die schönsten und interessantesten Vögel der Welt hat. Ich habe mich sofort in die Insel und seine Menschen und Vögel verliebt. Und jetzt habe ich 26 Expeditionen nach Neuguinea und andere Inseln gemacht, immer um die Vögel zu studieren. Aber dort ist man immer mit den Menschen zusammen, und so habe ich viel von den Menschen gelernt."

Leben außerhalb staatlicher Kontrolle

Bis zu den Anfängen der Landwirtschaft vor rund 11.000 Jahren waren alle Menschen auf der Welt Jäger und Sammler, bis vor 5.400 Jahren gab es keine Staaten. Alle menschlichen Gesellschaften waren also "weitaus länger traditionell, als unsere heutige Gesellschaft modern ist", sagt Jared Diamond, der außer Deutsch noch zwei Dutzend anderer Sprachen spricht. Wer sich also das Leben der Inuit in Nordalaska, der Kunai in Australien oder der !Kung in der Kalahari ansieht oder eine andere der insgesamt 39 Gesellschaften, die in Diamonds Buch vorkommen, blickt auf die "Welt der Menschen, wie sie praktisch bis gestern aussah, jedenfalls wenn man es an den sechs Millionen Jahren der Menschenevolution misst".

Der Autor selbst beschäftigt sich am intensivsten mit Neuguinea und den benachbarten Pazifikinseln. Hier gibt es nicht nur 1.000 der ungefähr 7.000 Sprachen der Welt, hier gibt es auch die größte Zahl von Gesellschaften, die bis ins 20. Jahrhundert "außerhalb der staatlichen Kontrolle" lagen.

"Alle traditionellen Gesellschaften sind Kleingesellschaften", so Diamond. "Wenn eine Gesellschaft größer wird, ist es notwendig, dass die Entscheidungen zentralisiert getroffen werden. Alle großen Gesellschaften brauchen Führer, Könige, Präsidenten. Alle großen Gesellschaften müssen ein Monopol von Gewalt ausüben. Sonst bricht die Gesellschaft auseinander."

Modelle zur Kindererziehung

Während große Gesellschaften bzw. Staaten auf hierarchischen Strukturen, Bürokratie und verbindlichen Normen basieren, zeichnen sich traditionelle Gesellschaften durch eine viel stärkere Gleichberechtigung ihrer Mitglieder aus - und eine, verglichen mit den modernen Gesellschaften, viel größere Vielgestaltigkeit bezüglich der Lebensweisen und kulturellen Bräuche.

Da er nicht alle Aspekte der menschlichen Kultur behandeln kann, was den Rahmen des Buches sprengen würde, konzentriert sich Jared Diamond in seinem immerhin fast 600 Seiten starken Werk auf neun wichtige Themen. Er untersucht Kriege und Konfliktlösungsmöglichkeiten, Kindererziehung und Altenbetreuung, den Umgang mit Gefahren und Risikovermeidung, Religion, Sprache und Gesundheit und argumentiert stets sehr differenziert. Manche Stämme würden eine repressive Erziehung bevorzugen, andere eine sehr freizügige. Im Durchschnitt aber genössen Kinder in traditionellen Gesellschaften mehr Spielräume als Kinder in der unseren:

"Ein Kind wird in den Jäger- und Sammlergesellschaften als selbstständig angesehen, das Kind soll für sich entscheiden dürfen, auch wenn das Kind dabei Fehler macht. (...) Bei uns sind die Eltern, der Vater und die Mutter, die wichtigsten Erwachsenen, während in traditionellen Gesellschaften die Kinder im Dorf herumlaufen und essen, bei welchen Erwachsenen sie im Augenblick sind. Das heißt, dass sie viel mehr Modelle haben für soziale Beziehungen."

Konfliktbewältigung

Davon könnten sich moderne Gesellschaften durchaus etwas abschauen, meint Diamond. Genauso wie von der Art und Weise, wie Konflikte gelöst werden, die in der Regel pragmatisch, informell und von den Betroffenen selbst entschieden werden.

"Wenn es um einen Konflikt, eine Streitigkeit zwischen zwei Nachbarn geht, die das ganze Leben miteinander zu tun haben, dann kommt es nicht darauf an, wer Recht und wer nicht Recht hatte. Es kommt darauf an, dass die zwei Menschen in der Nachbarschaft immer zusammen leben können, ohne ständig zu fürchten, dass der andere mich angreift. Darauf kommt es an in Neuguinea."

Was wir als relativ neue Errungenschaft schätzen, die Mediation zum Beispiel bei Ehescheidungen, ist in traditionellen Gesellschaften seit Urzeiten Usus. Auch was Ernährung und Gesundheit angeht, könnten wir von diesen lernen, denn Diabetes, Herzinfarkt, Bluthochdruck oder Krebs kämen da praktisch nicht vor. Man kennt auch keinen Zeitdruck, kein Leistungs- und Konkurrenzdenken, keinen Stress. Man weiß Gefahren richtig einzuschätzen und geht lieber ein Risiko zu wenig als eines zu viel ein. Und man legt hohen Wert auf Geselligkeit, Freundschaft und Gesprächigkeit.

"Der durchschnittliche Amerikaner verbringt acht Stunden am Tag an einem Computer- oder Fernsehschirm", sagt Diamond. "In Neuguinea gibt es das überhaupt nicht - nur Menschen und den Urwald. In Neuguinea sprechen wir immer, und wenn wir sprechen, gibt es keine Unterbrechungen durch das Telefon oder irgendwas. Mein neuguineischer Freund hat meine volle Aufmerksamkeit und auch umgekehrt. Deshalb sage ich, dass das Leben in Neuguinea intensiver ist als in großen Gesellschaften."

Gesellschaften im Übergang

Jared Diamond hat ein beeindruckend facettenreiches, äußerst informatives Buch geschrieben, ohne einen nostalgisch-verklärenden Blick zurück auf eine vermeintlich bessere Welt zu werfen. Er weiß um die Nachteile und Probleme des traditionellen Lebens: die hohe Säuglingssterblichkeit und geringe Lebenserwartung, die Risiken durch Infektionskrankheiten, Umweltgefahren und Hunger.

Er weiß natürlich auch, dass es die traditionelle Gesellschaft in Reinkultur eigentlich gar nicht mehr gibt, dass man besser von "transitorischen" Gesellschaften sprechen sollte, von Gesellschaften im Übergang. Noch in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts gab es Ureinwohner, die keinerlei Kontakt zur Außenwelt hatten und, als sie die ersten Weißen sahen, entsetzlich erschraken und fürchteten, die Geister ihrer Ahnen seien zurückgekehrt. Heute stehen ihre Nachfahren am Flughafen von Port Moresby in Papua-Neuguinea - und tragen kein spärliches Grasröckchen mehr, sondern Hose, Hemd und Baseballkappe.

"Es ist nicht so, dass wir diesen Gesellschaften etwas aufzwingen. Sie sehen, was draußen ist, sehen, dass es Streichhölzer gibt, dass es Betten gibt, die bequemer sind, dass die Menschen draußen nicht verhungern, dass das Risiko des Krieges klein ist. Also die traditionellen Menschen in Neuguinea und überall in der Welt wollen sich etwas von der Außenwelt aneignen", sagt Diamond.

Gucken und lernen

Auch wenn Jared Diamonds Buch den Fachleuten vielleicht keine aufregenden Neuentdeckungen, den interessierten Laien vielleicht eine zu große Materialfülle liefert, so beeindruckt es doch durch seine stupende Gelehrsamkeit, durch seine Genauigkeit, die intensive Recherche und die vielen persönlichen, manchmal geradezu dramatischen Erlebnisse, von denen der Autor zu berichten weiß:

"Ich habe versucht etwas, was ich faszinierend fand, mir zu erklären und dann den Reiz den anderen Menschen zu zeigen. (...) Die traditionellen Gesellschaften sind wie Tausende von natürlichen Experimenten, die schon gelaufen sind. Und wir können das Ergebnis angucken und davon lernen."

Manchmal aber können oder wollen wir lieber nichts lernen. Manchmal nämlich wurden die Alten von ihren Angehörigen weniger umsorgt, indem man ihnen zum Beispiel das Essen vorkaute, als vielmehr entsorgt: Die Kaulong in Neubritannien praktizierten bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts die rituelle Erdrosselung der Witwen. Auch davon erzählt Jared Diamond, dieser ebenso neugierige wie nimmermüde Wissenschaftler, der mit seinem "Vermächtnis" auch eine Hommage an ein Land präsentiert, das er seit fast 50 Jahren kennt und liebt: Papua-Neuguinea und seine Bewohner. "Die Intensität Neuguineas könnte ich selbst dann kaum abschütteln, wenn ich es wollte, aber ich will es nicht einmal", schreibt Diamond. "In Neuguinea zu sein heißt, die Welt für kurze Zeit in lebhafteren Farben zu sehen."

Service

Jared Diamond, "Vermächtnis. Was wir von traditionellen Gesellschaften lernen können", aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel, Verlag S. Fischer

S. Fischer - Vermächtnis