Neues Verständnis von Armut
Poor Economics
Dass man die Armut weltweit zurückdrängen oder am besten ganz beseitigen sollte, in diesem Ziel herrscht große Einigkeit. Doch wenn es darum geht, wie man die Armut am besten bekämpft, gibt es verschiedene Ansichten.
27. April 2017, 15:40
Vereinfacht könnte man zwei Ansätze unterscheiden: Auf der einen Seite steht die Forderung nach mehr Geld für Entwicklungshilfe, um für die Armen Bildung, medizinische Versorgung etc. bereitzustellen, so dass sie der Armutsfalle entkommen können. Die andere, politisch eher rechts orientierte Seite ist gegen Entwicklungshilfe. Dadurch würden Regierungen korrumpiert, die Menschen in Abhängigkeit gehalten und ihr freier Wille eingeschränkt. In Ihrem Buch "Poor Economics" plädieren die Autoren Abhijit Banerjee und Esther Duflo dafür, ein neues Verständnis von Armut zu entwickeln.
Wie denken und handeln Arme?
Der in Kalkutta geborene und derzeit am MIT, dem Massachusetts Institute of Technlogy, lehrende Abhijit Vinajak Banerjee und seine MIT-Kollegin Esther Duflo fragten sich, warum es immer noch Arme gibt, obwohl viele Organisationen seit Jahrzehnten versuchen, die Armut auszurotten. Über 15 Jahre hinweg haben sie oft ihre Schreibtische verlassen und in den Dörfern und Slums vieler Länder arme Menschen besucht. Sie wollten verstehen, wie arme Menschen denken und handeln.
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Wenn Sie eine Idee davon bekommen wollen, wie Arme leben, dann stellen Sie sich vor, Sie hätten für fast den gesamten täglichen Bedarf (ohne Miete) nicht mehr als 99 US-Cent zur Verfügung. Das ist nicht leicht, in Indien bekommen Sie dafür etwa 15 kleine Bananen oder eineinhalb Kilo Reis minderer Qualität. Kann man davon leben? Im Jahr 2005 taten dies weltweit etwa 865 Millionen Menschen, 13 Prozent der Weltbevölkerung.
Gemeinsam mit einem weltweiten Team von Soziologen und Ökonomen sind die Autoren an viele aufschlussreiche Daten gelangt, die zeigen, dass unsere Vorstellungen vom Leben der Armen meist falsch sind. In ihrem Buch "Poor Economics" analysieren sie Handlungsmotive von Armen in den wichtigsten Lebensbereichen. Etwa, wie sich Arme ernähren, wie sie sich verhalten, wenn sie krank sind, warum es kaum geeignete Krankenversicherungen für sie gibt oder wie sie die Bildung ihrer Kinder organisieren.
Essen ist nicht das Wichtigste
Zunächst versuchen die Autoren herauszufinden, welche Realität sich hinter der Formel "Eine Milliarde hungernder Menschen" verbirgt. Die meisten Menschen nehmen an, dass Armut mit Hunger verbunden ist. Und viele glauben, die Armen seien unter anderem deshalb so arm, weil sie nicht produktiv arbeiten könnten. Und das könnten sie nicht, weil sie nicht ordentlich ernährt seien.
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Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Die meisten Menschen, die von weniger als 99 US-Cent am Tag leben, verhalten sich nicht wie Hungernde.
Hungernde, so wäre zu erwarten, würden jeden verfügbaren Cent zum Kauf von Essen verwenden. Und zwar für solches Essen, für das sie am meisten Kalorien pro Geldeinheit bekommen. Doch so verhalten sich die Armen nicht.
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Der Grund dafür ist keineswegs, dass sie das Geld für andere notwendige Dinge brauchen: Im indischen Udaipur beispielsweise fanden wir heraus, dass ein typischer armer Haushalt bis zu 30 Prozent mehr für Nahrungsmittel ausgeben könnte, wenn man ganz und gar auf Alkohol, Tabak und Feste verzichten würde. So wie es aussieht, haben die Armen durchaus die Wahl, aber sie entscheiden sich nicht dafür, alles verfügbare Geld ins Essen zu stecken.
In einem abgelegenen Dorf in Marokko trafen die Forscher einen armen Mann und fragten ihn, was er tun würde, wenn er mehr Geld hätte. Mehr Nahrungsmittel kaufen, lautete die Antwort. Dann entdeckten die Forscher, dass er über einen Fernseher, einen DVD-Spieler und eine Satellitenantenne verfügte.
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Wir fragten ihn, warum er alle diese Dinge gekauft habe, wenn er glaube, seine Familie habe nicht genug zu essen. Da lachte er und sagte: "Ach, Fernsehen ist wichtiger als Essen!"
Zunächst waren die Forscher schockiert, doch nach einiger Zeit im Dorf konnten sie seine Entscheidung nachvollziehen.
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Das Leben in einem solchen Dorf kann ziemlich langweilig sein. Es gibt weder ein Theater noch eine Konzerthalle, noch einen Platz, an man sich setzen und fremde Leute vorbeiflanieren sehen könnte. Und Arbeit gibt es auch nicht viel.
Im Durchschnitt fanden die armen Dorfbewohner nur etwa 100 Tage Arbeit im Jahr. Sie hatten also viel Zeit zum Fernsehen.
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Ganz allgemein haben Dinge, die den Alltag etwas schöner machen, für die Armen Priorität.
Keine Patentrezepte
Welches Rezept zur Verbesserung der Ernährung der Armen leiten die Forscher nun aus ihren Erkenntnissen ab? Generell liefern Abhijit Banerjee und Esther Duflo nirgends Patentrezepte. Und gerade das macht ihr Buch so spannend. Die Gegebenheiten seien von Land zu Land, von Kultur zu Kultur ganz unterschiedlich. Doch die Autoren identifizieren stets die Kernfragen, die man angehen muss, um Armen wirklich zu helfen.
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Beim Hunger besteht das Problem weniger in der Menge, als in der Qualität der Nahrungsmittel. (...) Von guter Ernährung würden vor allem zwei Gruppen profitieren, die keinen Einfluss auf das haben, was sie essen: Ungeborene und Kleinkinder. Ein Kind, das im Mutterleib oder in der frühen Kindheit ordentlich ernährt wurde, wird sein ganzes Erwerbsleben lang mehr Geld verdienen.
Die Regierungen und internationalen Organisationen sollten ihre Ernährungspolitik daher völlig neu durchdenken. Statt für viel Geld riesige Mengen an Getreide zu liefern, sei es oft viel sinnvoller, Programme zu entwickeln, um zum Beispiel mit minimalen Gaben von Jod oder Eisen die Versorgung von Schwangeren oder Kleinkindern entscheidend zu verbessern.
Zuerst das Nächstliegende
Warum geben Arme oft viel Geld für wirkungslose oder sogar schädliche medizinische Behandlung aus, sind aber nicht bereit, in Sanitäreinrichtungen oder ein Moskitonetz zu investieren, die viel mehr zu ihrer Gesundheit beitragen würden? Warum lassen sie ihre Kinder nicht impfen, obwohl die Impfung kostenlos wäre? Und warum kommen sie zum Impfcamp, wenn sie dort 1 Kilo Linsen bekommen? Wenn man Abhijit Banerjee und Esther Duflo auf ihrer Reise in die Welt der Armen begleitet, erhält man sehr aufschlussreiche Antworten auf diese Fragen. Häufig lässt sich widersprüchliches Verhalten mit dem Phänomen der "Zeitinkonsistenz" erklären.
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Wir alle haben den Hang, geringfügige Kosten aufzuschieben, so dass wir sie nicht heute, sondern erst morgen abdienen müssen. Arme Eltern können vom Nutzen einer Impfung absolut überzeugt sein, aber dieser Nutzen wird sich erst in der Zukunft erweisen, während die Kosten heute anstehen. Dummerweise sieht das nicht anders aus, wenn aus morgen heute geworden ist. So ist leicht nachzuvollziehen, weshalb geringe Kosten vom Gebrauch eines lebensrettenden Gegenstands abhalten oder warum kleine Belohnungen ihn fördern.
Das Kilo Linsen entschädigt die Mutter für den Zeitaufwand, ins Impfcamp zu kommen. Sie hat sofort einen Nutzen, während der Nutzen des Impfschutzes in einer vagen Zukunft liegt. Auch für die Organisatoren des Camps sind die Linsen eine gute Investition. Paradoxerweise sanken dadurch die Kosten pro Impfung, weil die Effizienz gesteigert wird.
Wer daran interessiert ist, warum sich arme Menschen kaum gegen die wichtigsten Lebensrisiken absichern können, warum es ihnen so sehr schwer fällt zu sparen, obwohl sie manchmal Geld übrig hätten, und mit welchen Angeboten man ihnen das Sparen erleichtern könnte, dem sei das Buch "Poor Economics" wärmstens empfohlen. Es bietet genau das, was der Untertitel verspricht: Ein neues Verständnis von Armut.
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Abhijit Banerjee, Esther Duflo, "Poor Economics - Plädoyer für ein neues Verständnis von Armut", Albrecht Knaus Verlag
Albrecht Knaus Verlag - Poor Economics