Robert Service contra David North
Leo Trotzki
Ein kritischer, nicht allzu sorgfältiger englischer Historiker gegen einen amerikanischen Gralsritter des Trotzkismus: eine mit ungleichen Mitteln und Absichten ausgetragene Kontroverse, deren Stilisierung zum Historikerstreit der Realität schon gar nicht gerecht wird.
8. April 2017, 21:58
Vielmehr handelt es sich um einen Disput, dem eine Weltanschauungsdifferenz zugrunde liegt und der daher auf wissenschaftlicher Ebene gar nicht zu lösen ist, wie uns schon Max Weber lehrte.
Versuch einer Diffamierung
Mit Detailkritik an falschen Jahreszahlen, vertauschten Kindernamen und fragmentierten Zitaten, die auch einige deutschsprachige Historiker bemängelten, versucht David North jedoch, den bereits durch Biografien über Lenin und Stalin ausgewiesenen Oxforder Professor als antitrotzkistischen Geschichtsfälscher mit "pathologischem Hass auf den Gegenstand seiner Untersuchung" wie auch als Dilettanten zu diffamieren. Der aktive Trotzkist North hält Trotzki bis heute für einen "Titan der Politik und des Geisteslebens", dessen Schriften bis heute an Scharfsinn unübertroffen sind:
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Tatsache ist, dass Professor Service einfach nicht genug über Trotzkis Leben und Denken weiß. (...) Seine Bemerkungen zu Trotzki haben einen nebensächlichen Charakter und beinhalten eine Reihe von auffälligen faktischen Fehlern. (...) Die Person des großen Revolutionärs, politischen Genies, militärischen Führers und Meisters des Worts soll ersetzt werden durch etwas Missgestaltetes, Fratzenhaftes, dem jede Ähnlichkeit mit dem Menschen Trotzki abgeht.
Häme vom Trotzkisten
Die Kritik an fakischen Fehlern, die in jeder umfangreichen Studie vorkommen, ist jedoch nur vordergründig. Trotzkis Anhänger empört anderes: Wer, wie Robert Service, deutlich aufzeigt, dass Trotzki nicht nur kein Humanist und auch kein sonderlich origineller Intellektueller, sondern Befürworter von Diktatur, Terror und Erschießungskommandos war und dies auch reichlich unter Beweis stellte, solange er über politische Entscheidungsmacht verfügte, wird von Trotzkisten mit Schmach und Häme überzogen, zum reaktionären bürgerlichen Wissenschafter, zum Büttel des Kapitalismus mit falschem Bewusstsein gestempelt, sowohl fachlich wie moralisch diffamiert.
Anhänger des revolutionären Marxismus, die sich seit jeher die Fähigkeit zuschreiben, Einsicht in einen vermeintlich gesetzmäßigen Gang der Weltgeschichte gewonnen zu haben, wähnen sich berechtigt, das Fortschreiten der Weltrevolution auch mit Gewalt zu exekutieren.
Mit den Mitteln der Gewalt
Im Glauben an derartige historische Notwendigkeiten zeigte sich gerade Trotzki besonders radikal, wobei er mehr noch als andere Marxisten dem Trugschluss aufsaß, Europa wäre 1918 ein Pulverfass der Revolution gewesen, das nur eines Funkens - also eines Hineintragens des revolutionären Krieges in die bereits vom Ersten Weltkrieg geschwächte Gesellschaft - bedurfte, um die Diktatur des Proletariats zu errichten - mit dem Mittel der Gewalt, viel Gewalt, wie im Falle der Russischen Revolution, denn gerade im noch bäuerlichen Russland, das kaum politisierte Arbeiterschaft besaß, waren nach den klassischen marxistischen Theorien die Bedingungen für den Ausbruch einer Revolution noch nicht gegeben. Dazu Robert Service, Trotzki selbst zitierend:
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Das Regime, das er zu etablieren gedachte, würde diktatorisch und gewalttätig sein: "Ich sage euch, Köpfe müssen rollen, Blut muss fließen. (...) Die Stärke der Französischen Revolution beruhte auf der Maschine, welche die Feinde des Volkes einen Kopf kürzer machte. Das ist eine schöne Erfindung. Wir brauchen sie in jeder Stadt." Trotzki stellte sich als ein Jakobiner seiner Zeit dar.
Egomane Persönlichkeit
In der Tat dekonstruiert Robert Service den Mythos von Trotzki als humanere Alternative zum massenmörderischen Stalinismus. Er verweist an viele Stellen auf die Diskrepanz zwischen Trotzkis Schriften, die westliche Trotzkisten in freien Gesellschaften so anziehend fanden, und Trotzkis Taten als Volkskommissar für militärische Angelegenheiten, als er die Rote Armee aufbaute und in den Ruf geriet, ein Anhänger von Exekutionen als Mittel zur Führung der Streitkräfte zu sein.
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Lenin und Trotzki hatten einen Bürgerkrieg gewollt, um die Chance zu bekommen, die Feinde der Oktoberrevolution unumkehrbar zu zerschlagen. (...) Trotzki unterstützte den Roten Terror uneingeschränkt. (...) Er begriff erst allmählich, dass die grundsätzlichen Entscheidungen über die Führung des Bürgerkriegs in den Händen der Parteiführung lagen. Seit er Kriegskommissar geworden war, hatte er entweder auf eigene Faust gehandelt oder sich im Notfall an Lenin oder Swerdlow gewandt, ihm bei der Durchsetzung seiner Befehle zu helfen. (...) Er war ebensowenig wie Stalin bereit, Befehle zu empfangen, die seinen Ideen widersprachen. Was ihm fehlte, war Stalins Gerissenheit und das Geschick, sein eigenes Talent zu managen.
Robert Service erklärt Trotzkis politisches Scheitern - wie nahezu alle Lebensumstände - aus seiner egomanen Persönlichkeit, die er in allen Facetten und mit viel Redundanz erläutert, mitunter auf Kosten von echten Argumenten. Und Trotzki blieb immer auch ein manisch schreibender Revolutionär, dessen stilistische Fähigkeiten große Verführungskraft besaßen. An der politischen Front spaltete er die Partei mit seiner Polemik und Kompromisslosigkeit. Im machtpolitischen Spiel, das er weniger souverän beherrschte als die geduldigere Feder, verlor er gegen Stalin, wurde verbannt, in der Sojetunion zum Tode verurteilt, exiliert und schließlich im Auftrag Stalins in Mexiko auf archaiische Weise mit einem Eispickel ermordet und erst von Gorbatschov rehabilitiert.
Der Berufsrevolutionär
An seinen grundsätzlichen Fehleinschätzungen hielt Trotzki ein Leben lang vernagelt fest und verstieg sich proportional zum Abstieg in die politische Bedeutungslosigkeit auf die immer gleichen deterministischen Behauptungen von der nahenden Weltrevolution. Obwohl akademische Intellektuelle durchaus Interesse an einer Auseinandersetzung mit Trozkis Ideenwelt hatten, zeigte sich deutlich, dass er für philosophische und erkenntnistheoretische Fragen wenig Verständnis hatte. Trotzkis Denken blieb auf die politische Aktion gerichtet, er starb als Berufsrevolutionär.
Sympathie hegt der Biograf Robert Service für den Porträtierten in der Tat wenig, wenngleich er ihm viele und hohe Talente attestiert, die Trotzki jedoch in den Dienst einer destruktiven Ideologie stellte. Dass er dennoch unter den 68-igern noch einmal eine Konjunktur erlebte, liegt am mittlerweile aufgebauten Mythos Trotzki.
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Im Jahr 1991 brach die gesamte kommunistische Ordnung zusammen. Der Trotzkismus wurde zu einer antiquarischen Kuriosität. (...) Trotzki verdient, vor dieser zunehmenden Missachtung bewahrt zu werden, unter anderem auch deshalb, weil er nie ganz das war, was er angab zu sein oder was andere über ihn sagten. Trotzki hätte genauso wenig wie Stalin eine Gesellschaft eines menschenfreundlichen Sozialismus geschaffen, auch wenn er behauptete, das zu tun, und selbst daran glaubte. (...) Trotzki hat Freiheit und Diskussion, der Organisation und der Wahl gefordert und Tugenden der proletarischen Selbstbefreiung gepredigt. Was er in seiner Hochzeit von 1917 bis 1922 tat, entsprach dem ganz und gar nicht. Er hatte Widerspruch in Partei und Gewerkschaften unterdrückt. (...) Seine Neigung zu Befehlen war ausgeprägter als die zu Diskussionen; er war arrogant und herrisch. Die Trotzkisten hatten sich einen Führer und Menschen ausgedacht, der nur hin und wieder mit Lew Dawidowitsch Trotzki verwandt war.
Service
Robert Service, "Trotzki - Eine Biographie", aus dem Englischen von Friedrich Griese, Suhrkamp Verlag
David North, "Verteidigung Leo Trotzkis", übersetzt von Andrea Rietmann, herausgegeben von Wolfgang Weber, Mehring Verlag
Suhrkamp - Trotzki - Eine Biographie
Mehring - Verteidigung Leo Trotzkis