Ha Jin über das Massaker 1937

Nanking Requiem

Ha Jin gehört seit Jahren zu den großen Stimmen der zeitgenössischen chinesischen Literatur. Für seine Romane "Warten" und Kriegspack" hat er hohe Auszeichnungen erhalten. Ha Jin - oder Jin Xuefei, wie er eigentlich heißt - lebt zwar seit 1985 in den USA, wo er an der Universität Boston englische Literatur lehrt, doch seine Romane kreisen weiterhin um chinesische Themen.

200.000 Zivilisten getötet

Das Massaker von Nanking im Dezember 1937 zählt zu den grausamsten Kriegsverbrechen. Als die japanische Armee während des Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieges die chinesische Stadt Nanking eroberte, sollen mindestens 200.000 Zivilisten und Kriegsgefangene ermordet und rund 20.000 Mädchen und Frauen vergewaltigt worden sein. Doch die in der Volksrepublik China offiziell verfügbaren Informationen sind verzerrt und unvollständig.

Der 1956 in Nordchina geborene Ha Jin hörte zwar in seiner Jugend über die Ereignisse von Nanking, doch was wirklich geschehen war, wurde ihm nicht klar. Zu diffus waren die Berichte. Als er Mitte der 1980er Jahre zum Doktoratsstudium in die USA ging, stellte er dann erstaunt fest:

"In den USA hielten viele chinesisch-stämmige Amerikaner jedes Jahr im Dezember Veranstaltungen und Konferenzen ab, um dieser Tragödie zu gedenken. Sie stellten Fotos und andere Dokumente aus. Ich war schockiert, und es wurde mir klar, wie gering mein Wissen war bzw. wie vieles uns ganz anders erzählt worden war. Das schürte mein Interesse, und allmählich vertiefte ich mich mehr und mehr in dieses Thema."

Ha Jin recherchierte in Bibliotheken und Archiven in den USA. In der Volksrepublik China ist er seit 27 Jahren nicht mehr gewesen, denn nach dem Massaker am Tiananmen-Platz 1989 beschloss er, in den USA zu bleiben, woraufhin er keine Einreiseerlaubnis mehr nach China erhielt.

Die Wahrheit vorenthalten

Sein Unwissen und die Tatsache, dass man ihm die Wahrheit vorenthalten hatte, nennt Ha Jin als die zentralen Motive, die ihn dazu veranlassten, einen Roman über das Massaker von Nanking zu verfassen. Besonders interessierte ihn dabei die Rolle der Ausländer.

"In meiner Jugend in China hörten wir immer, dass alle Ausländer in Nanking Kollaborateure der Japaner waren", sagt Ha Jin. "Wahr ist aber genau das Gegenteil. Diese Ausländer taten alles in ihrer Kraft Stehende, um den Chinesen zu helfen und retteten Hunderttausende Zivilisten. Dass man uns die Wahrheit vorenthielt, hatte politische Gründe. Das chinesische Regime will die Emotionen der Menschen kontrollieren und manipulieren, und es will die kollektive Erinnerung auf seine Art formen. Es will nicht, dass die Menschen die Wahrheit wissen. Die offizielle Version über Nanking, die uns geboten wurde, versteht man vor dem politischen Hintergrund der Zeit: Der Westen und insbesondere die USA waren imperiale Mächte, die dem Kommunismus und den Kommunisten in China feindlich gegenüberstanden."

Die Tagebücher der Minnie Vautrin

In seinem Roman "Nanking Requiem" erzählt Ha Jin die Geschichte aus der Sicht der Chinesin Anling. Anling selbst ist eine fiktive Person, doch die amerikanische Missionarin Wilhemine "Minnie" Vautrin, für die Anling arbeitet, gab es tatsächlich. Minnie Vautrin und der Deutsche John Rabe gehörten zu den wenigen Ausländern, die trotz des Krieges beschlossen, in Nanking zu bleiben. Minnie Vautrin verwandelte das amerikanische College, das sie leitete, in ein Flüchtlingslager für Frauen und Kinder. In ihren Tagebüchern dokumentierte Minnie Vautrin die Ereignisse und auch ihre Verzweiflung darüber, dass sie immer wieder mitansehen musste, wie Japaner gewaltsam in das College eindrangen und Chinesinnen entführten. Auf diese Tagebücher sowie verschiedene Augenzeugenberichte und Zeitdokumente stützt sich Ha Jin in seinem Roman.

Es war ein schwieriges Material, gesteht Ha Jin ein. Zweimal gab er auf, weil ihm die Herausforderung zu groß schien, doch dann machte er den nächsten Versuch und stellte das Werk schließlich fertig. Schwierig ist auch die Lektüre des Buches, und das nicht etwa aus stilistischen Gründen, sondern weil Ha Jin den Lesern nichts an Härte und Grausamkeit erspart.

In China zensuriert erschienen

"Nanking Requiem" ist inzwischen auch ins Chinesische übersetzt worden und auch in der Volksrepublik China erhältlich, erzählt Ha Jin, der seit Jahren seine Romane nur mehr in englischer Sprache verfasst: "Absolute Freiheit ist natürlich nur ein Ideal, eine Utopie. Doch wenn ich auf Englisch schreibe, dann kommen mir keine Gedanken wie: Kann so etwas veröffentlicht werden? Wird es zensuriert werden? Würde ich auf Chinesisch schreiben, würden mir selbstverständlich solche Gedanken kommen. Egal; was oder wie ich schreibe, ich könnte nie abschätzen, was dann wirklich im Druck erscheint. Auch die chinesische Version von 'Nanking Requiem' ist stark zensuriert worden, vor allem jene Teile, in denen die kommunistische Guerilla vorkommt. So erzähle ich in meinem Roman, dass die kommunistische Guerilla nicht nur gegen die Japaner kämpfte, sondern auch Dorfbewohner schikanierte. Aber das wurde so verändert, dass die Sätze ihren Biss verloren."

Solche Zensur ist Ha Jin gewöhnt, auch seine anderen Bücher entgingen ihr nicht. Seriöse und textgetreue Übersetzungen ins Chinesische werden hingegen in Taiwan gemacht. Und solche Übersetzungen aus Taiwan finden ihren Weg auch in die Volksrepublik China.

Service

Ha Jin, "Nanking Requiem". Aus dem Englischen übersetzt von Susanne Hornfeck, Ullstein Verlag

Ullstein - Nanking Requiem