Bibelkommentar zu Lukas 3, 1 - 6
„Die Menschen werden das Heil sehen, das von Gott kommt.“ An diesem letzten Satz des gerade gehörten Evangeliums bleibt Josef Schultes hängen. „Alle Menschen werden Gottes Heil sehen!“ Beglückend und befreiend empfindet er sie, diese große Verheißung, auf die Johannes der Täufer hinweist.
8. April 2017, 21:58
Kein Wort davon steht allerdings bei Markus und Matthäus. Nur einer schreibt diese tiefe Zuversicht und Offenheit dem Mann am Jordan zu. Völlig klar, wer das tut, sagen die Fachleute, ganz typisch für Lukas...
Um seine Tonart zu verstehen, blättere ich zurück auf die Seite eins seines Evangeliums. „Schon viele haben es unternommen“, so der melodisch feine Auftakt, „einen Bericht über all das abzufassen, was sich unter uns ereignet und erfüllt hat.“ Weitere präzise Akkorde folgen: „Nun habe auch ich mich entschlossen, allem von Grund auf sorgfältig nachzugehen, um es für dich, hochverehrter Theophilus, der Reihe nach aufzuschreiben.“ Dankbar die Widmung an seinen Verleger, freundlich in Dur gehalten. Dann ein kleines katechetisches Finale: „So kannst du dich von der Zuverlässigkeit der Lehre überzeugen, in der du unterwiesen worden bist.“ (Lk 1,1.3-4)
Und das ist es auch schon, das Präludium, kurz und einmalig. Mit ihm hebt jene großartige Komposition an, über der steht: „Frohbotschaft nach Lukas“. Seine Partitur bestimmt das heurige römisch-katholische Kirchenjahr ganz entscheidend, das am heutigen ersten Adventsonntag beginnt. Denn die Evangelien-Abschnitte, wie sie die katholische Leseordnung für die einzelnen Sonntage vorsieht, sind heuer meist dem Evangelium nach Lukas entnommen; er ist sozusagen der „biblische Jahres-Komponist“.
Heute und am kommenden 3. Advent ist zu hören, wie auch Johannes der Täufer seiner genauen Tonspur folgt. Denn dessen Auftritt wird – einzigartig im ganzen Neuen Testament – nur von Lukas mit zeithistorischen Angaben versehen, und zwar in einem sechsfachen Synchronismus. Die Reihe beginnt in Rom bei Tiberius, dem schon zu Lebzeiten vergöttlichten Kaiser. Sein 15. Regierungsjahr fällt, je nach Berechnungsweise, auf die Jahre 27/28 oder 28/29 unserer Zeitrechnung. Und die Aufzählung endet in Jerusalem, bei Kajaphas, dem Hohepriester aus der Adelspartei der Sadduzäer.
„Alle Menschen werden Gottes Heil sehen!“ Lukas begnügt sich aber nicht mit einem Auflisten historischer Ereignisse. Als hellenistisch gebildeter Autor versteht er die konkreten Fakten als den Ort, wo Gott sich zeigt und wirkt. Er will also nicht profanes Geschehen schildern, sondern heilige Geschichte erzählen. Bedeutende Geschichte wird zur gedeuteten Geschichte.
„Alle Menschen werden den Heiland Gottes sehen!“ hat Martin Luther übersetzt. Zuerst überrascht mich das, doch dann finde ich, dass es dem entspricht, worum es Lukas zutiefst geht: Mit Jesu Kommen beginnt das „Heute der Heilszeit“, die Johannes der Täufer verkündigt. „Johannes, Sohn des Zacharias“ (V.2): Nur Lukas bezeichnet ihn so. Hebräisch Jochanan, übersetzt „JHWH-ist-gnädig“, Ben Sacharja, Sohn des „JHWH-erinnert-sich“. Programmatische zwei Namen, trostvoll und aufbauend.
„Alle Menschen werden Gottes Heil sehen!“ Ursprünglich steht ja diese Verheißung bei meinem Lieblingspropheten Jesaja. Genauer gesagt bei Deutero-Jesaja, also in jenem zweiten Teil der Schriftrolle, der erst in der Zeit des Exils zwischen 550 und 539 vor Christus entstanden ist. Bekannt ist daraus der Appell, den ersehnten Heimweg aus der Gefangenschaft in Babylon vorzubereiten: „Eine Stimme ruft: Bahnt für den Herrn einen Weg durch die Wüste! Baut in der Steppe eine ebene Straße für unseren Gott!“ (Jes 40,3) Schon Markus hat diesen Text in sein Evangelium eingebaut und ihn auf Johannes den Täufer in der Wüste bezogen. Lukas übernimmt die Vorlage des Markus, bringt aber ein viel längeres Zitat aus dem Buch Jesaja. Exakt nach der Septuaginta, der verbreiteten griechischen Übersetzung: „opsetai pasa sarx to soterion tou theou. Sehen wird alles Fleisch das Heil Gottes“ (Jes 40,5b = Lk 3,6).
Diese universalistische Tendenz, diese pastorale Weite des Lukas spricht mich an. Sein Evangelium der Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes in Jesus lässt mich aufatmen.
Zum Schluss noch eine kleine Herausforderung: Kompositionen von Bach, Mozart und Wagner können die meisten leicht unterscheiden. Warum sollte das bei Markus, Matthäus und Lukas nicht gelingen – wenn letzterer ein ganzes Kirchenjahr lang zu hören sein wird, Sonntag für Sonntag?!