Storys von Andrea Grill

Liebesmaschine N.Y.C.

Über New York ist alles gesagt. Henry James und Dorothy Parker, Truman Capote, Martin Scorsese und natürlich Woody Allen: Sie alle haben den Assoziationsraum New York mit reichlich Bildern und Geschichten gefüllt. Nicht zu vergessen das Fernsehen.

Jeder von uns hat atmosphäregetränkte Bilder im Kopf: Lieutenant Kojak im karamellbraunen Buick, wie er durch die Straßen von Manhattan kurvt. Holly Golightly im schwarzen Cocktailkleid, die Auslage von "Tiffany" bewundernd. Oder vielleicht auch: die "Sex-and-the-City"-Heroine Carrie Bradshaw beim schwatzhaften Lunch mit ihren Freundinnen.

"Ich bin eine New Yorkerin gewesen, bevor ich je einen Fuß in diese Stadt gesetzt habe", schreibt Andrea Grill in ihrem New-York-Buch und sagt dazu im Gespräch: "Als ich in das echte New York gekommen bin, war ich doch auch beeinflusst von Bildern, vielleicht wirklich auch von Woody-Allen-Filmen: Man schlendert durch die Straßen und denkt sich, das kenne ich doch. Allerdings kennt man das alles nur zweidimensional, und wenn man vor Ort ist, wird es auf einmal 3-D. Ich war einfach sprachlos angesichts der eindrucksvollen Architektur und dieser Straßenschluchten."

Neue Aspekte der Metropole

"Liebesmaschine N.Y.C": In ihrem erfrischend unkonventionellen Buch gelingt Andrea Grill das Kunststück, der literarisch zu Tode zitierten Weltmetropole am Hudson-River doch noch so etwas wie neue Aspekte abzugewinnen.

"Meine Idee war, eine Stadt über ihre Menschen erlebbar zu machen", sagt Grill. "Jeder kennt zwar die Skyline von New York und von Wien und von Paris, aber was einem wirklich Eindruck macht sind, denke ich, die Begegnungen. Die bleiben im körperlichen Gedächtnis."

Und so erzählt Andrea Grill von Jane, der Gynäkologin mit Flugangst, die sie während eines turbulenten New-York-Flugs kennenlernt. Sie berichtet von Mister X., einem namenlosen Liebhaber, mit dem die Ich-Erzählerin ins Bett geht, nur weil Mister X. Kaffee der Rösterei "Alt-Wien" im Küchenkasten hat. Und sie macht uns mit der Psychoanalytikerin Erika bekannt. Erika, Exil-Österreicherin, ist vier Mal 21 Jahre alt und therapiert nur Künstler, weil die die interessanteren Neurosen haben.

Gleich neben New York

Andrea Grill weilt auf Einladung der Rutgers University in New York, und die Rutgers University befindet sich eben nicht in New York, sondern 50 Kilometer von New York entfernt. Andrea Grill lebt also...

Aufsehen erregender Fall

Ausführlich beschäftigt sich Andrea Grill in ihrem Buch mit dem "Fall Tyler Clementi", der während ihres New-York-, pardon, New-Brunswick-Aufenthalts für Schlagzeilen gesorgt hat. Der 18-jährige Rutgers-Student Tyler Clementi war von einem Zimmerkollegen mittels Webcam heimlich bei homosexuellen Liebeshandlungen gefilmt worden. Nachdem der Zimmergenosse die Sache auf Facebook publik gemacht und vielleicht auch ein Video ins Netz gestellt hatte, beging Tyler Clementi, ein schüchtern wirkender Teenager, Selbstmord, indem er von der George-Washington-Bridge sprang, nicht ohne den Suizid vorher getwittert und auf Facebook angekündigt zu haben.

"An der Geschichte hat mich sehr berührt, dass so klar herauskommt, wie zwiespältig Informationen und Nachrichten sind, die man bekommt", so Grill. "Denn im ersten Moment hatte ich durch die amerikanische Presse den Eindruck, dass er das Opfer seines Zimmerkollegen war, dass der ihn total gemobbt hatte, weil er schwul war, und dass er sich deswegen umgebracht hätte. Ein Jahr später habe ich im 'New Yorker' eine ausführliche Reportage über diese Geschichte gelesen, in der sie vor allem seinen Zimmerkollegen porträtiert haben, und das Bild hat sich total verschoben."

Dharun Ravi, der Cyber-Mobber, ist ein indischstämmiger Student, der gar nichts gegen Schwule haben will, wie er betont. Seit dem Suizid seines Zimmernachbarn lebt Ravi praktisch unter Hausarrest bei seinen Eltern. Er wird bedroht, beinahe tagtäglich, von Leuten, die er nie gesehen hat. Andrea Grill hält auch ihn, der zum Zeitpunkt der Tat noch minderjährig war, für eine Art Opfer: "Es ist eine Geschichte, in der es keinen Schuldigen gibt. So etwas zu akzeptieren, fällt uns schwer. Es gibt keine Lösung dafür, man kann nicht sagen: Der oder der ist schuld."

Mit dem "New Yorker" auf der Couch

Andrea Grill ist längst aus New York zurückgekehrt. Sie lebt wieder in Wien und manchmal auch in Amsterdam. Auf ihr geliebtes New York muss die Autorin dennoch nicht verzichten.

Ja, ja, Andrea Grill ist eine richtig crispe Autorin. Die humorgetränkte Naivität, mit der sie ihre Texte würzt, sollte man der 37-Jährigen allerdings nicht uneingeschränkt abnehmen. Es ist eine raffinierte, fast möchte man sagen, eine durchtriebene Naivität, deren Andrea Grill sich befleißigt. Die hintersinnige Quirligkeit ihrer literarischen "Short Cuts" passt jedenfalls gut zu einer wuseligen Metropole wie New York, einer Stadt, die so schnelllebig ist, dass man die Sonntagszeitung in der Regel schon am Samstag bekommt. Das ist allerdings nicht von Andrea Grill, sondern von Carrie Bradshaw: Staffel zwei, Episode fünf.

Service

Andrea Grill, "Liebesmaschine N.Y.C.", Storys, Otto-Müller-Verlag

Otto-Müller-Verlag