Heisenberg, Hahn, Weizsäcker und die deutsche Bombe

Die Nacht der Physiker

6. August 1945: Um 8 Uhr 16 Ortszeit explodiert über Hiroshima eine Uran-Bombe mit der Sprengkraft von 11.350 Tonnen. "The world will know, that the first atomic bomb was dropped on Hiroshima, a military base. We won the race of discovery against the germans." Der amerikanische Präsident Truman in einer Ansprache, kurze Zeit nach dem Atombombenabwurf.

Er rechtfertigt ihn mit dem Hinweis, im Krieg gegen die nicht kapitulationsbereiten Japaner Tausenden von amerikanischen Soldaten das Leben gerettet zu haben: "We have used it in order to shorten the agony of war in order to save the lives of thousands and thousands of young americans. We shall continue to use it, until we completly destroy japans power to make war."

Nach der Explosion der amerikanischen Bombe wird ein greller Blitz sichtbar, eine Hitzewelle folgt, ein Pilz aus purpurrot-grauem Rauch entsteht. Menschen verbrennen im Bruchteil einer Sekunde zu schwarzer Kohle. Anderen, die nicht im Zentrum der Detonation waren, hängt die Haut in Fetzen herunter, vielen werden Mund, Nase und Ohren weggebrannt. Die Stadt, eine Wüste aus Schutt und Asche, 70.000 von 76.000 Häusern zerstört. Die Zahl der Opfer wird zunächst auf 140.000 geschätzt, fünf Jahre später, nach Bekanntwerden der an den Folgen der radioaktiven Strahlung Gestorbenen, auf 200.000.

Für deutsche Physiker unglaubwürdige Nachricht

Am gleichen 6. August 1945 sitzen zehn namhafte deutsche Physiker in Farm Hall, einem Landsitz nahe Cambridge, lauschen den BBC-Nachrichten – und können kaum glauben, was sie hören: die Zerstörung Hiroshimas durch eine einzige Bombe.

"Diese Nachricht, die sich im Laufe der Stunden ausgebreitet hat, die zunächst geleugnet wurde von den Physikern, vehement abgestritten wurde - als Unsinn, Betrügerei, Propagandalügen", so Richard von Schirach. "Es verdichtete sich aber nach ein paar Stunden durch die häufigen Meldungen von BBC die Tatsache, dass an der Meldung etwas dran war, dran sein musste. Das führt nun dazu, dass die Wissenschaftler, die sich ja für überlegen hielten, erfahren, dass sie als Wissenschaftler eigentlich nicht mehr gebraucht wurden; dass alles, ihr Wissen, ihre Hoffnungen, völlig veraltet war, dass sie überholt waren auf eine so dramatische Weise, dass sich das dann auslöste in Weinkrämpfen, in Schluchzen vor Kummer, weil Amerika auf einmal die Atombombe hatte. Und Deutschland hatte doch mal die Kernspaltung entdeckt, mit der alles begonnen hatte."

"Die Nacht der Physiker": Richard von Schirachs Buch über Entwicklung und Einsatz der Atombombe kulminiert in den Disputen jener Nacht, als Werner Heisenberg, Otto Hahn, Carl Friedrich von Weizsäcker und Co., die Mitglieder des sogenannten "Uranvereins" in Deutschland, von der Zerstörung Hiroshimas erfuhren - und rekonstruiert den Wettlauf der Deutschen mit den Amerikanern um die Erfindung dieser Waffe. Seine Hauptquelle sind dabei die vor zwanzig Jahren erstmals veröffentlichten Protokolle jener Gespräche 1945 auf dem englischen Landgut Farm Hall.

"Was einen frappiert ist, dass der technische Aspekt der Atombombe in den ersten Stunden im Vordergrund steht", sagt Richard von Schirach. "Wie haben sie es gemacht, warum, welche Mengen? Das ist ja unglaublich! Diese Geldmittel! Und die Nachricht, die sich auch mit eingeschlichen hat, dass dort 100.000 Zivilisten, Kinder mit in einem Feuerstoß verbrannt sind, das wurde eigentlich nicht reflektiert."

Entlarvende Aussagen über die Atombombe

Als Anfang 1945 die deutsche Niederlage und der Einmarsch der Alliierten immer näher rückten, zogen deutsche Atomphysiker mit Werner Heisenberg an der Spitze von Berlin in die süddeutsche Provinz. Im Felsenkeller des Schwanenwirts im schwäbischen Haigerloch wurde ein Uranreaktor versteckt - und weiterhin versucht, Experimente zu machen, um spaltbares Material zur Kettenreaktion zu bringen.

Doch die deutschen Wissenschaftler blieben nicht lange unentdeckt. Das amerikanische Alsos-Kommando hatte die Aufgabe, die führenden Köpfe der deutschen Atomversuche aufzuspüren, aus dem Verkehr zu ziehen und ihr Wissen vor dem Zugriff der Franzosen und Russen zu sichern. Heisenberg, Hahn, Weizsäcker und sieben weitere Physik-Koryphäen wurden festgenommen und via Versailles nach England gebracht. Dort wurden sie in Farm Hall einquartiert, offiziell als Gäste, nicht als Gefangene. Eine alte Klausel erlaubte es, Kriegsgegner auch ohne Anklage bis zu sechs Monate auf englischem Boden festzuhalten. Die Gespräche, die die Zehn führten, hat man heimlich abgehört, aufgezeichnet und übersetzt – und damit auch ihre Aussagen über die Atombombe und ihre Verwendung.

"Heisenberg hatte ein ganz eigenes Dilemma: auf der einen Seite wollte er eigentlich, dass Deutschland gewinnt. Gleichzeitig sollten aber nicht die Nazis gewinnen. Gleichzeitig wollte man aber auch nicht als inkompetent dastehen, als jemand, der gewollt hätte, aber nicht gekonnt hatte", so Richard von Schirach. "Weizsäcker ist viel rabulistischer und opportunistischer in dieser Weise. In dieser Nacht der Offenbarungen, der Nacht, die ich beschreibe, sagt er, ja, die Amerikaner haben's nun angerichtet, aber wir hätten es eigentlich gekonnt, haben es aber aus Rücksicht, aus menschlichen Gründen nicht gemacht. Das ist natürlich der Gipfel der Unverschämtheit, von diesem etwas aufreizenden jungen Weizsäcker. Und aus dieser Haltung heraus - eigentlich hätten wir gekonnt, wir haben es aber nicht gemacht - entwickelte sich später eine Art Widerstandslegende: dass man, um ja nicht dem Diktator zum Schluss noch eine Bombe in die Hand zu drücken, innerlich das Uranprojekt torpediert hat."

Am Geld gescheitert

Richard von Schirach erklärt, warum den Deutschen misslang, was den Amerikanern glückte: die Atombombe zu bauen bzw. die Voraussetzungen für diese zu schaffen. Die Amerikaner bündelten ihre wissenschaftlichen und materiellen Ressourcen, setzten ihre besten Leute ein und investierten Unsummen. In der heißen Phase der Atombombenentwicklung wurde in mehr als drei Dutzend Versuchsanlagen und Fabriken gearbeitet und monatlich über 600 Millionen Dollar ausgegeben. Mit diesem Aufwand konnten die Deutschen nicht konkurrieren, die zudem mit dem Theoretiker Heisenberg nicht den geeigneten Mann an der Spitze hatten und bei ihren Forschungen nicht immer den richtigen Weg einschlugen.

"Die Bombenphysik ist völlig anders", erklärt Richard von Schirach. "Das ist ein ganz anderes Denken, und da merkt man, dass die Deutschen eigentlich aufgegeben hatten, schon 1942, und gar nicht weiter nachgedacht hatten, weil sie das im Grunde für unrealistisch hielten, das noch in der Kriegszeit zustande zu bringen. Und ich glaube ihnen, dass die da noch eine Bestätigung haben wollten: Wir haben den ersten Reaktor der Welt zum Laufen gebracht. Das war für einen Physiker eine wunderbare Sache offenbar."

Schönrederei

Welche Wege und Irrwege die Deutschen bei der Entwicklung des Atomreaktors beschritten, wie das amerikanische Manhattan-Projekt vorangetrieben wurde und welche Rolle dabei emigrierte jüdische Wissenschaftler spielten, warum die Atombombe gezündet wurde, obwohl Japan schon danieder lag, und wie Russland auf die amerikanische Wunderwaffe reagierte, wie Heisenberg und Konsorten ihren Misserfolg schönredeten – spannende Fragen, die Richard von Schirach in einem spannenden Buch diskutiert. In einem Buch, das nicht zuletzt auch ein Lehrstück ist über den Wissenschaftsbetrieb, über Missgunst und Hochmut, Eitelkeit und Rivalität, und vor allem auch: über Verantwortung und Moral.

"Die Frage ist, wie weit wir was draus gelernt haben oder ob wir überhaupt nichts daraus gelernt haben - aus diesem Vorgang, wie Wissenschaft sich dienstbar machen ließ durch das Militär, durch den politischen Druck", sagt Richard von Schirach. "In dem Zusammenhang würde ich gerne erwähnen, dass nach dem Abwurf der zweiten Bombe, das ist ja der eigentliche Sündenfall, der Nagasaki-Bombe, das war eine Plutoniumbombe, danach haben von 2.500 Wissenschaftlern in Los Alamos, wo das Gehirnzentrum war, nur zwei den Dienst quittiert. Alle anderen haben weitergemacht. Da ist irgendwie so eine Grenze überschritten. Da gab es keinen moralischen Aufschrei mehr, sondern es ging jetzt um die Wasserstoffbombe. Da blieben alle wieder dabei."

Am 3. Januar 1946 ließ man die zehn deutschen Wissenschaftler wieder frei und nach Deutschland zurückkehren - Heisenberg, Hahn und Co., die die amerikanische Armee einst zu den "gefährlichsten Geheimnisträgern überhaupt" zählte, so gefährlich, dass man sie ursprünglich fünf Jahre in Alaska verstecken wollte, damit niemand von ihrem Wissen würde profitieren können.

Dass sie den Wettlauf mit den Amerikanern um die Kernenergie und ihre Nutzung lange vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs verloren hatten, mögen sie als persönliche Schmach empfunden haben, ihren Nachkriegskarrieren hat es nicht wirklich geschadet. Sie fanden, wie Richard von Schirach am Ende seines gut erzählten und solid recherchierten Buches bemerkt, schnell Posten als Rektoren und Professoren, Direktoren und Präsidenten. "Ich glaube nicht, dass wir uns entschuldigen sollten, weil wir erfolglos geblieben sind", erklärte Carl Friedrich von Weizsäcker. Und fügte hinzu: "Man kann sagen, es wäre für die Welt eine größere Tragödie gewesen, wenn Deutschland die Uranbombe gehabt hätte."

Service

Richard von Schirach, "Die Nacht der Physiker. Heisenberg, Hahn, Weizsäcker und die deutsche Bombe", Berenberg Verlag

Berenberg Verlag - Die Nacht der Physiker