Was Europa den Griechen schuldet
Hellas sei Dank!
Hört man heute Griechenland, denkt man zuerst an Staatsverschuldung und Eurokrise. Die einstige Wiege der Demokratie, das Geburtsland von Philosophie, Wissenschaft und Medizin, wurde zum europäischen Problemkind. Höchste Zeit, sich daran zu erinnern, was wir den Griechen alles zu verdanken haben, so Karl-Wilhelm Weeber, Autor des Buches "Hellas sei Dank!"
8. April 2017, 21:58
Die Finanzkrise in Europa und ihr schwarzes Schaf Griechenland sind mittlerweile für viele ein nerviges Thema. Immer weniger EU-Bürger sehen die Hilfszahlungen als sinnvolle Lösung. Das aktuelle öffentliche Bild Griechenlands wird dominiert von Steuerschwindlern, Pensionserschleichern und spendierfreudigen Politikern - eine Entwicklung, die dem Althistoriker und Philosophen Karl-Wilhelm Weeber gar nicht passt. Schließlich hätten wir Hellas, also dem alten Griechenland, einen Großteil unseres kulturellen und wissenschaftlichen Erbes zu verdanken. Gleich zu Beginn seines Buches stellt Weeber fest:
Zitat
Unter der historischen Perspektive ist Hellas für Europa das, was die finanziell starken Länder Europas heute nicht ohne überheblichen Zungenschlag zu sein beanspruchen: ein Geberland. Und was für eines! Was in der griechischen Antike grundgelegt worden ist, wurde über die Jahrtausende in die Geistesgeschichte Europas so stark eingespeist, dass viele den Ursprung aus den Augen verloren haben.
Die Wiege der Demokratie
Hellas gilt als Wiege der Demokratie und damit als Geburtsland für die heute in Europa vorherrschende Staatsform. Doch bis dorthin war es auch für die alten Griechen ein langer Weg. Im Griechenland des 4. und 5. Jahrhunderts vor Christus bestand der Staat aus einzelnen Stadtstaaten, genannt Polis, mit meist einigen tausend Bürgern, den sogenannten Politen.
Bürgerliches Engagement und politisches Interesse empfanden die Politen als selbstverständliche Pflicht, als Beitrag für die Gemeinschaft. Intellektuelle wie Herodot, Platon und Aristoteles stellten sich schon früh der Frage nach der besten Staatsform und damit einhergehend der Frage nach dem höchsten Maß an Gerechtigkeit innerhalb einer Gesellschaft. Monarchie, Aristokratie und Demokratie, damals noch Isonomie, also "Gleichheit vor dem Recht" genannt, galten als positive Staatsformen.
Mit der Demokratie entschied erstmals einzig und allein der Status des Bürgers und nicht Abstammung oder Vermögen über den Grad politischer Teilhabe. Das Einbeziehen möglichst vieler Bürger in die Verwaltung eines Staates motivierte und brachte ein starkes Verantwortungsgefühl gegenüber der Gemeinschaft mit sich. Eine Art Mitmachdemokratie, wie der Autor sie bezeichnet, die erstmals bewiesen hat, dass ein Volk durchaus in der Lage ist, sich selbst zu regieren.
Werkstatt ohne Perfektionsanspruch
Zitat
Es war das erste Mal in der Weltgeschichte, dass mit der Idee der Volksherrschaft Ernst gemacht wurde und entscheidende Prinzipien, die auch heute noch als demokratisch gelten, durchgesetzt wurden. Athen hat den Beweis erbracht, dass die Herrschaft des Volkes in Theorie und Praxis funktionierte; nicht ohne Sand im Getriebe, aber als echte Alternative zur monarchischen oder aristokratischen Regierungsform.
Dass demokratischer Anspruch und demokratische Realität auch damals nicht immer Hand in Hand gingen, führt Weeber vor allem auf die vorbildlose Position Hellas zurück, das ohne jegliche Erfahrungswerte eine komplett neue Form der Staatenführung schuf. Das Griechenland von damals ist als Demokratiewerkstatt zu verstehen, ohne Anspruch auf Perfektion.
Erfinder der Philosophie
Neben unserer heutigen Staatsform baut ein Großteil unserer wissenschaftlichen Disziplinen auf den Ideen der alten Griechen auf. Schon im 6.Jahrhundert vor Christus begann man in Hellas mit der Suche nach Ursprüngen und Ursachen, also mit dem, was wir heute Philosophie nennen. Heraklit, Sokrates und sein Schüler Platon, um nur einige klingende Namen zu nennen, beschäftigten sich mit der Stellung des Menschen, mit Werten wie sittlichem Handeln, Ethik und Tugend.
Mit Aristoteles als Universalgelehrtem wurde die Brücke von der Philosophie zur Naturwissenschaft geschlagen, und somit das Vertrauen darin gestärkt, dass die Welt durch alltägliche Sinneserfahrungen zu erfassen ist. Aristoteles ebnete den Weg der empirischen Wissenschaften, prägte erstmals eine klare Wissenschaftssprache sowie eine Differenzierung der einzelnen Wissenschaften. Biologie, Medizin, Mathematik und viele andere Wissenschaftsdisziplinen wären ohne den Wissensdrang der alten Griechen nicht das, was sie heute sind. So stellt Karl-Wilhelm Weeber zusammenfassend fest:
Zitat
Wissen war gut, aber Fragen war noch besser. Die spannende Frage nach den Gründen und Ursachen setzt eine Neugier, einen Wunsch nach Horizonterweiterung, ein Ethos des Wissen-wollens voraus, das im Menschen angelegt ist, aber aktiviert werden muss. Im Hinblick auf diese Aktivierung des forschenden Geistes verdankt Europa Hellas unendlich viel.
Überall präsente Mythologie
Auch kulturell haben wir den alten Griechen so einiges zu verdanken. Das Theater zum Beispiel ist im Athen des 6. Jahrhunderts vor Christus entstanden, und verstand sich damals als Volksvergnügen für jedermann. Das Gymnasium, Museen und Bibliotheken, sie alle basieren auf den Ideen der alten Griechen.
Die reiche griechische Mythenwelt spiegelt die Auseinandersetzung mit Politik, Wissen und Philosophie wider. Sie umfasst einen Erfahrungsschatz an Archetypen, Handlungsmustern und Antworten auf grundlegende Fragen. Das macht die auch heute noch ungebrochene Faszination für die griechische Mythologie aus. In unserer Konsumwelt leben diese Mythen weiter. Paketdienst Hermes, Volkswagen Eos, Navigationssystem Odysseus. Die Namensgebung ist vielleicht nicht immer passend, aber allemal gut fürs Geschäft.
Sprachliches Geberland
Einer der wohl berühmtesten Export-Schlager Hellas' sind die olympischen Spiele. Der Sieg und der damit einhergehende Ruhm, sowie der Spaß der Zuschauer an spannenden Wettkämpfen, standen damals im Vordergrund. Heutige Werte wie Völkerverständigung und Fair Play waren den Athleten und dem Publikum von damals aber eher fremd.
Weeber betont auch immer wieder die Rolle Hellas' als sprachliches Geberland und die Bedeutung des griechischen Kulturwortschatzes nicht nur für die Wissenschaft. Wer hätte gedacht, dass selbst, wer ein Kilo Butter bestellt, quasi griechisch spricht, beide Begriffe leiten sich aus dem Griechischen ab.
Karl-Wilhelm Weeber liefert eine detailierte und durchaus unterhaltsame Abhandlung der griechischen Wissenschafts- und Kulturtradition, und lässt keinen Zweifel daran, dass Europa Hellas viel zu verdanken hat. Diese Tradition Hellas' mit der Wirtschaftsmisere des heutigen Griechenland zu vergleichen oder gar dagegen aufzuwiegen, ist aber wenig zufriedenstellend. Sich an sein griechisches Wesen und Erbe zu erinnern, wie Weeber es vorschlägt, und daraus Selbstbewusstsein für die jetzige Situation zu ziehen, ist wahrscheinlich sowohl für die Griechen als auch für die restlichen Europäer ein schwacher Trost. Offen bleibt die Frage, was es braucht, damit Griechenland wieder an sein eigenes Erbe anschließen kann.
Service
Karl-Wilhelm Weeber, "Hellas sei Dank! Was Europa den Griechen schuldet. Eine historische Abrechnung", Siedler Verlag
Hellas sei Dank!