Selektive Geburtenkontrolle und die Folgen

Das Verschwinden der Frauen

"Besser 500 Rupien jetzt, als später 500.000". Jeder Inder weiß, was damit gemeint war, kommentiert die Autorin eine geschmacklose Reklame aus dem Indien der 1980er Jahre. Geworben wurde für vorgeburtliche Geschlechtsbestimmung durch Ultraschalluntersuchungen. Gemeint war: besser gleich - im Fall eines Mädchens - 500 Rupien in eine Abtreibung investieren, als später bei der Heirat der Tochter für eine teure Mitgift zahlen zu müssen.

Diese Reklame macht deutlich, mit wie viel Abgebrühtheit und Selbstverständlichkeit das Thema Geschlechtsselektion in Indien behandelt wird. Auch in China wurde in den 1980er Jahren die Ein-Kind-Politik mit Vorliebe für männliche Stammhalter populär. Das natürliche Zahlenverhältnis zwischen Frauen und Männern, bei dem auf 100 neugeborene Mädchen 105 Buben kommen, gerät dadurch weltweit ins Ungleichgewicht - mit gravierenden Folgen: Zusammen stellen China und Indien ein Drittel der Weltbevölkerung.

Nicht nur in Asien

Die Autorin warnt davor, Geschlechtsselektion als lokales Problem zu sehen, das gezielte Abtreiben von weiblichen Föten passiere längst weltweit. Geografische oder ethnische Gemeinsamkeiten schließt Hvistendahl daher aus, die Gründe für die gezielten Abtreibungen seien vielfältiger als Tradition, kulturell bedingte Selektion oder Armut. Im Gegenteil: Das natürliche Gleichgewicht der Geschlechterverhältnisse bringen laut der Autorin Wohlstand, jahrelanges Wegschauen, medizinische Techniken und Geldgier auseinander.

Eine Statistik zu pränatalen Ultraschalluntersuchungen in Indien zeichnet ein trauriges Bild: Je höher der Bildungsabschluss der Mütter, desto weniger Mädchengeburten gibt es. Fast ein Drittel des Gesamteinkommens indischer Gynäkologen stammt aus Abtreibungen, erzählt ein indischer Arzt. Bei denjenigen, die sich für den weiblichen Fetizid hergeben, sind es sogar 90 Prozent.

Hvistendahl lässt in ihr Buch viel Historisches einfließen und beschreibt, wie in den 19070er und 1980er Jahren aus Angst vor Überbevölkerung die westlichen Staaten und die UNO die Geburtenkontrolle fördern und zur gezielten Familienplanung aufrufen, und die USA liberale Abtreibungsgesetze in den Entwicklungsländern forcieren. Allein im Zeitraum von Jänner 1981 - kurz nach Einführung der Ein-Kind-Politik - bis Dezember 1986 wurden an chinesischen Frauen 67 Millionen Abtreibungen vollzogen.

Überschüssige Männer

Demographen zeichnen ein düsteres Zukunftsbild für die männliche chinesische Bevölkerung. Zwischen 2020 und 2030 soll laut Hochrechnungen jeder fünfte chinesische Mann ein überschüssiger Mann sein, heiratsfähige Frauen werden bis 2045 knapp bleiben. Nach einer anderen Statistik wird der chinesische Überschuss an Männern im dritten Lebensjahrzehnt bald die gesamte weibliche Bevölkerung Taiwans an Zahl übertreffen. Gleichzeitig gibt es in demographischen Problemzonen wie Nordwestindien und Ostchina, wo es wenig neugeborene Mädchen gibt, im Heiratsalter genug Frauen. Denn: hier wird eifrig Mädchen- und Frauenhandel betrieben.

Mara Hvistendahl kritisiert auch das Wegschauen der Zuständigen, dazu gehört der Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen - kurz UNFPA.

Eine Anti-Geschechtsselektions-Kampagne könne sich in eine Anti-Abtreibungskampagne verwandeln und die Rechte der Frauen wieder schmälern? Hvistendahl argumentiert dagegen:

Mara Hvistendahls Buch "Das Verschwinden der Frauen" ist aufwühlend und bringt erschreckende Fakten und Prognosen zu einem weltweiten Problem, das sich nicht mehr totschweigen lässt.

Service

Mara Hvistendahl, "Das Verschwinden der Frauen. Selektive Geburtenkontrolle und die Folgen", aus dem Englischen übersetzt von Kurt Neff, Deutscher Taschenbuch Verlag

dtv - Mara Hvistendahl