Selektive Geburtenkontrolle und die Folgen
Das Verschwinden der Frauen
"Besser 500 Rupien jetzt, als später 500.000". Jeder Inder weiß, was damit gemeint war, kommentiert die Autorin eine geschmacklose Reklame aus dem Indien der 1980er Jahre. Geworben wurde für vorgeburtliche Geschlechtsbestimmung durch Ultraschalluntersuchungen. Gemeint war: besser gleich - im Fall eines Mädchens - 500 Rupien in eine Abtreibung investieren, als später bei der Heirat der Tochter für eine teure Mitgift zahlen zu müssen.
8. April 2017, 21:58
Diese Reklame macht deutlich, mit wie viel Abgebrühtheit und Selbstverständlichkeit das Thema Geschlechtsselektion in Indien behandelt wird. Auch in China wurde in den 1980er Jahren die Ein-Kind-Politik mit Vorliebe für männliche Stammhalter populär. Das natürliche Zahlenverhältnis zwischen Frauen und Männern, bei dem auf 100 neugeborene Mädchen 105 Buben kommen, gerät dadurch weltweit ins Ungleichgewicht - mit gravierenden Folgen: Zusammen stellen China und Indien ein Drittel der Weltbevölkerung.
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Infolge beider ungleichgewichtiger Geburtssummen zeigt bereits das weltweite Geschlechterverhältnis bei der Geburt Schlagseite. Von 105 ist es auf biologisch problematische 107 gestiegen. Geschlechtsselektion setzt sich über Kultur, Nationalität, Glaubensbekenntnis hinweg. Das Geschlechterungleichgewicht hat Vietnam erreicht, von dem man eigentlich angenommen hat, dass die Menschen dort nicht patriarchalisch genug denken und empfinden, um Mädchengeburten vermeiden zu wollen. Es hat die Kaukasusstaaten - Aserbaidschan, Georgien, Armenien - erreicht, die als diesbezügliche Problemregionen zu betrachten niemand in den Sinn gekommen wäre. Und es hat den Balkan erreicht – jene, nur eine kurze Schiffspassage von Italien entfernte, vom Krieg erschütterte Region.
Nicht nur in Asien
Die Autorin warnt davor, Geschlechtsselektion als lokales Problem zu sehen, das gezielte Abtreiben von weiblichen Föten passiere längst weltweit. Geografische oder ethnische Gemeinsamkeiten schließt Hvistendahl daher aus, die Gründe für die gezielten Abtreibungen seien vielfältiger als Tradition, kulturell bedingte Selektion oder Armut. Im Gegenteil: Das natürliche Gleichgewicht der Geschlechterverhältnisse bringen laut der Autorin Wohlstand, jahrelanges Wegschauen, medizinische Techniken und Geldgier auseinander.
Eine Statistik zu pränatalen Ultraschalluntersuchungen in Indien zeichnet ein trauriges Bild: Je höher der Bildungsabschluss der Mütter, desto weniger Mädchengeburten gibt es. Fast ein Drittel des Gesamteinkommens indischer Gynäkologen stammt aus Abtreibungen, erzählt ein indischer Arzt. Bei denjenigen, die sich für den weiblichen Fetizid hergeben, sind es sogar 90 Prozent.
Hvistendahl lässt in ihr Buch viel Historisches einfließen und beschreibt, wie in den 19070er und 1980er Jahren aus Angst vor Überbevölkerung die westlichen Staaten und die UNO die Geburtenkontrolle fördern und zur gezielten Familienplanung aufrufen, und die USA liberale Abtreibungsgesetze in den Entwicklungsländern forcieren. Allein im Zeitraum von Jänner 1981 - kurz nach Einführung der Ein-Kind-Politik - bis Dezember 1986 wurden an chinesischen Frauen 67 Millionen Abtreibungen vollzogen.
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Mit dem Erwachsenwerden der ersten von einem ungleichgewichtigen Geschlechterverhältnis betroffenen Generation hat sich die stillschweigende biologische Diskriminierung, die am Ursprung der Geschlechtsselektion steht, zu sichtbareren Gefahren für Frauen verschärft, darunter sexuelle Ausbeutung, Heiratshandel und Zwangsehe. Auf einer einwöchigen Hochzeitstour besorgen sich überschüssige südkoreanische und taiwanesische Männer ihre Frauen aus Vietnam. Männer in den reichen Landesteilen von China und Indien kaufen Frauen aus ärmeren Regionen durch Vermittlung zwielichtiger Makler, von denen nicht klar ist, ob sie sich in jedem Einzelfall die Mühe machen, die Zustimmung der Frau einzuholen.
Überschüssige Männer
Demographen zeichnen ein düsteres Zukunftsbild für die männliche chinesische Bevölkerung. Zwischen 2020 und 2030 soll laut Hochrechnungen jeder fünfte chinesische Mann ein überschüssiger Mann sein, heiratsfähige Frauen werden bis 2045 knapp bleiben. Nach einer anderen Statistik wird der chinesische Überschuss an Männern im dritten Lebensjahrzehnt bald die gesamte weibliche Bevölkerung Taiwans an Zahl übertreffen. Gleichzeitig gibt es in demographischen Problemzonen wie Nordwestindien und Ostchina, wo es wenig neugeborene Mädchen gibt, im Heiratsalter genug Frauen. Denn: hier wird eifrig Mädchen- und Frauenhandel betrieben.
Mara Hvistendahl kritisiert auch das Wegschauen der Zuständigen, dazu gehört der Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen - kurz UNFPA.
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"Sobald Sie sagen: Da gibt es diese Frauen, die so lange abtreiben, bis sie einen Jungen haben", so eine feministische Soziologin, "na, Sie wissen doch, was dann passiert, dann ist sofort der Vatikan da und sagt: 'Abtreibung muss verboten werden, es müssen Anti-Abtreibungsgesetze her.' Klappe zu, Affe tot. Also lässt der UNFPA wegen dem A-Wort die Finger von dem Problem."
Eine Anti-Geschechtsselektions-Kampagne könne sich in eine Anti-Abtreibungskampagne verwandeln und die Rechte der Frauen wieder schmälern? Hvistendahl argumentiert dagegen:
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Darauf könnte man antworten, dass die größte Gefahr, der wir uns gegenübersehen, in einem dramatischen Rückgang der Zahl von Frauen und Mädchen besteht - dass Sexhandel mit Frauen, Brautkauf und generelle Instabilität der gesellschaftlichen Verhältnisse, wenn sie gleichzeitig auftreten, sich zu einer einzigen riesengroßen Gefahr summieren. In einer Welt, die an einer unnatürlichen Frauenknappheit krankt, wird das Recht auf Abtreibung unsere geringste Sorge sein.
Mara Hvistendahls Buch "Das Verschwinden der Frauen" ist aufwühlend und bringt erschreckende Fakten und Prognosen zu einem weltweiten Problem, das sich nicht mehr totschweigen lässt.
Service
Mara Hvistendahl, "Das Verschwinden der Frauen. Selektive Geburtenkontrolle und die Folgen", aus dem Englischen übersetzt von Kurt Neff, Deutscher Taschenbuch Verlag
dtv - Mara Hvistendahl