Crowdsourcing: Vielfalt in der Masse
Wie kam es, dass sich die Bedeutung des Wortes "Crowd" so grundlegend verändert hat? Englisch "crowd" heißt Menge, Menschenansammlung, aber auch Menschenauflauf, Gedränge, Masse, gemeines Volk, Pöbel. Crowd war also lange Zeit eher negativ konnotiert.
27. April 2017, 15:40
Mit "Crowdsourcing" wird die Masse nun plötzlich zur Hoffnungsträgerin für Innovation.
Crowdsourcing bezeichnet verschiedene Prozesse, die über das Web abgewickelt werden, wobei von der Crowd Anregungen eingeholt werden. Dabei kann es sich um technische Lösungen für Produkte handeln, oder auch neue Ideen für Werbekampagnen.
Inzwischen gibt es Plattformen wie Kickstarter (http://www.kickstarter.com/), wo für Projekte aller Art Finanzierungen gesucht werden. Crowdsourcing stellt neue Allianzen zwischen Produzenten und Konsumenten her, so dass letztere zu Mit-Produzenten werden. Die Crowd wird nun als Quelle neuer Ideen betrachtet. Diese positive Bedeutung der Crowd ist aber eine spezifische Errungenschaft des Informationszeitalters.

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Im späten 19. Jahrhundert schrieb Gustave Le Bon ein Buch über die "Psychologie der Massen". Für ihn war die Masse vor allem etwas Bedrohliches, denn in ihr verloren die Menschen ihre Individualität und ließen sich durch Ansteckung zu Taten hinreißen, die sie ansonsten nie begangen hätten. Damit verriet Le Bon seine zutiefst konservative Einstellung, denn die Implikation war, dass die demonstrierenden Arbeitermassen nicht wussten, was sie taten. Diese Tendenz zur Verführbarkeit rechtfertigte für Le Bon die Propaganda, die nötig war, um dieses negative Potential im Zaum zu halten.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, unter dem Einfluss starker politischer Massenbewegungen, war die Masse ein wichtiges Thema, das u.a. von Sigmund Freud behandelt wurde. Auch Freud glaubte, ähnlich wie Le Bon, dass in der Masse so etwas wie ein Persönlichkeitsverlust stattfindet. Er betonte die Gefahr der Idealisierung eines Führers durch die Übertragung narzisstischer Gefühle auf diesen.
Walter Benjamin analysierte, wie der Nationalsozialismus diesen Vorgang der Identifikation durch die Ästhetisierung des Politischen bewusst herzustellen versuchte. Die Masse sollte in der Anbetung des Führers in die Knie gezwungen werden, schrieb Benjamin in seinem berühmten Essay über "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit."
Wie kam es aber, dass die Crowd heute so völlig anders betrachtet wird? Einen wichtigen Beitrag leistete die Arbeit von Gabriel Tarde+ zum Gruppendenken, die bereits vor Le Bon veröffentlicht worden war und auf die sich letzterer bezog. Tarde glaubte, dass es Prozesse der Ansteckung geben würde, die auf Imitation und Innovation beruhen.
Lange Zeit beinahe vergessen, wurde Tarde vom französischen Philosophen Gilles Deleuze und dessen italienischem Kollegen Felix Guattari wiederentdeckt. Tardes Ideen über Gruppendenken stellten nicht die Massenpsychose in den Vordergrund, sondern die Ausbreitungsbedingungen von Ideen in bestimmten sozialen Feldern, auf einer allgemeineren, wertfreieren Ebene als bei Le Bon. Es ging um psychologische Fernwirkungen, um Einflüsse, Kraftlinien.
Solche Ideen, lange Zeit eher vernachlässigt, machten in den 1990er Jahren wieder verstärkt Sinn. Das hat natürlich sehr viel mit dem Aufkommen des Internet zu tun, mit dem sich die Idee der digitalen Communities rasant verbreitete. Diese Vorstellungen überschneiden sich auch mit Prinzipien der sozialen Netzwerkanalyse, des Schwarmdenkens und ähnlicher Ansätze++. Im Kern geht es dabei immer um Formen der Ansteckung und der Nachahmung, die nicht ganz rational erklärbar sind, durch deren Erforschung sich aber feststellen lässt, wie sich Neues verbreitet.
Neben der Philosophie, hat auch die Clubbing und Rave-Szene - mit Hip Hop, House, Techno etc. das Image der Crowd verändert. Vor allem in der frühen House- und Technoszene, als es noch kaum berühmte Namen unter den DJs gab, wurde der Rave als kollektive und emanzipatorische - wenn auch manchmal leicht halluzinatorische – Erfahrung erlebt. Aber auch alternative Lebens- und basisdemokratische Politikansätze wie die Proteste gegen Atomkraft oder Verbauung der Donauauen haben gezeigt, dass große Menschenmengen zur Selbstorganisation ohne externe Steuerung von oben fähig sind.
Mit Crowdsourcing ist die Crowd nun im 21. Jahrhundert angekommen, sie gilt als hip, trendy, in. Nicht Massenkonsum und Massenproduktion wird damit assoziiert, sondern die Partizipation emanzipierter SuperkonsumentInnen. Der Begriff der Massen wurde entmassifiziert. Die Masse ist nun nicht mehr homogen, sondern Quelle von Vielfalt. Durch privates Crowdfinancing können sogar potenziell mehr und andere kulturelle Produktionen Finanzierung finden, als durch staatliche Fördersysteme.
Crowdsourcing bringt neue Öffentlichkeiten mit Produzenten aller Art zusammen. Indem die Crowd sich in Produktionsprozesse einbringt und entscheidet, wird zumindest potenziell die wahre Vielfalt und Komplexität zeitgenössischer Gesellschaften sichtbar. Gleichzeitig lässt sich mit der Vielfalt der Masse gut davon ablenken, wie gleichgeschaltet wir trotz aller Freiheiten immer noch sind.
Text: Armin Medosch, Autor und Medienwissenschaftler
Service
+ Stäheli, Urs, and Christian Borch, "Soziologie Der Nachahmung Und Des Begehrens: Materialien Zu Gabriel Tarde", Originalausgabe. Suhrkamp Verlag, 2009.
++ Watts, Duncan J. "Six Degrees: The Science of a Connected Age", W. W. Norton & Company, 2004.