"Bildersturm" von Josef Winkler

Wortschatz der Nacht

Ende der 1970er Jahre, nach dem Erscheinen seines Debütromans "Menschenkind", klemmte sich Josef Winkler, damals 26, hinter seine Schreibmaschine und klopfte innerhalb weniger Nächte hundert Seiten rauschhafter Prosa aufs Papier, einen "Bildersturm", wie er es nennt.

Alfred Kolleritsch druckte den hundertseitigen Text seinerzeit in der Grazer Literaturzeitschrift "manuskripte" ab. Titel: "Das lächelnde Gesicht der Totenmaske der Else Lasker-Schüler", ein Titel, der dem Suhrkamp-Verlag wohl zu lang und zu umständlich war, denn jetzt, in der Buchfassung, ist Winklers Prosa-Exzess knapper und knackiger mit "Wortschatz der Nacht" übertitelt.

Erinnerungen an den elterlichen Bauernhof

Es handelt sich um eine rohe, hochpoetische, ungestaltete Prosa-Libertinage, die der junge Winkler da in seine Kugelkopfschreibmaschine gehämmert hat. Inhaltlich kreist der Text um später immer wieder variierte Winkler-Themen: um die stickig-dumpfe, von autoritärer Enge geprägte Atmosphäre auf dem elterlichen Bauernhof in Kärnten, um kindliche Isolation und die weihrauchgeschwängerte Sinnlichkeit katholischer Alltagskultur, um die Wonnen präpubertärer "Winnetou"-Lektüre und schwulen Todeskult.

"Der Tod war für mich immer ein faszinierendes Thema", sagt Josef Winkler, "ein Thema der Angst, des Schreckens, auch der Sehnsucht. Es gibt wahrscheinlich auch einige biografische Hinweise, warum es so weit gekommen ist."

Eine der biographischen Prägungen Winklers dürfte mit einem kleinkindlichen Trauma zu tun haben, das der Dichter auch in späteren Büchern immer wieder beschrieben hat: "Da trägt mich meine Tante über eine breite, knarrende Stiege in ein Aufbahrungszimmer und hebt mich dann über einen mit Immergrün geschmückten Sarg, und in diesem Sarg liegt meine Großmutter mütterlicherseits, die an gebrochenem Herzen gestorben ist, denn diese Großmutter mütterlicherseits hat zwei Kleinkinder verloren, und im Zweiten Weltkrieg hat sie drei Söhne verloren, im Alter von achtzehn, zwanzig und zweiundzwanzig Jahren. Die ist dann sehr früh gestorben. Und diese meine Tante bringt mich zu diesem Sarg hin und hebt mich in die Höhe und zeigt mir das Totenantlitz meiner Großmutter. Bis zu diesem Augenblick kann ich mich zurückerinnern." Damals war Josef Winkler drei.

Schlüsselerlebnis

In "Wortschatz der Nacht" kommt auch ein anderes Schlüsselerlebnis der Winkler'schen Biografie zur Sprache: der Selbstmord zweier 17-jähriger Lehrlinge in Winklers Heimatdorf Kamering, die sich im Spätsommer 1976 im örtlichen Pfarrhofstadel an einem drei Meter langen Kälberstrick aufgehängt haben. Einer der beiden, Jakob, war mit Winkler befreundet. In "Wortschatz der Nacht" ergeht sich der Autor in wollüstigen Phantasien angewandter Nekrophilie, was den verewigten Jugendfreund betrifft:

"Wortschatz der Nacht" liest sich wie ein ungestalteter Text von rauschhafter Abgründigkeit. Man verliert sich im Rhtyhmus der Worte, die mit bezwingender Macht über den Leser hinwegbranden. Die hundert Seiten, die der Kärntner Dichter seinem Publikum da vor die Füße speit, sind ein einziges Erzähl-Delirium, eine Prosa-Glossolalie von manischer Suggestivität:

"Wenn einmal der Ritus der katholischen Kirche in einen eingedrungen ist, kommt man nicht mehr davon los. Da hat man, glaube ich, überhaupt keine Chance", meint Winkler. "Und ich merk's ja, was den Stil und die Sprache und den Rhythmus meiner Texte betrifft: Ich schreibe im Rhythmus der christlichen Liturgie."

Service

Josef Winkler, "Wortschatz der Nacht", Suhrkamp-Verlag

Suhrkamp - Wortschatz der Nacht