Die dunkle Seite der Romantik

Nachtmeerfahrten

Wenn von Romantik die Rede ist, dann denkt man zunächst an die romantische Liebe, an die "blaue Blume" oder vielleicht an die romantische Ironie. Aber die Romantik hatte auch eine dunkle Seite und um die geht es im Buch "Nachtmeerfahrten" der Berliner Kulturwissenschaftlerin Simone Stölzel.

In seiner voluminösen Anklageschrift gegen jene "Zerstörung der Vernunft", die dem intellektuellen Faschismus den Weg geebnet hat, schrieb der Philosoph Georg Lukacs der "unvernünftigen" Romantik einen großen Schuldanteil zu. Der Traum des Marxisten von einer kollektivistisch-vernünftigen und solidarischen Gesellschaft ist allerdings genauso gescheitert, wie der des Friedrich Schlegel: Das Wunderkind der romantischen Philosophie entwarf eine "progressive Universalpoesie", welche die Grenzen zwischen Leben und Kunst ebenso sprengen sollte, wie jene zwischen Literatur und Wissenschaft. Das ist häufig der Anspruch literarischer Avantgarden, verwirklicht wurde er nie.

Das grenzenlose Ich

Doch etwas Grundsätzliches hat die Moden unserer Kultur überlebt: die Konzentration auf das grenzenlose Ich, gestützt auf die Lehre des Philosophen Fichte: "Dein Ich sei Dein Gott." Das hat die Romantik als literarische Bewegung unsterblich gemacht, sie lebt und ihre Protagonisten haben uns mit ihrer Erzähl- und Sprachkunst eine neue poetische Welt erschlossen. Auf der Schwelle zur sogenannten Moderne haben die Romantiker Bereiche zu erkunden gesucht, die damals - und vielleicht auch heute - sprachlich kaum fassbar sind. Simone Stölzel nennt die wichtigsten dieser Bereiche, die dem aufgeklärt-vernünftigen Ich fremd waren.

Das spielt wohl schon auf Psychoanalyse und Gehirnforschung an. Es hat also dieses unendliche Ich, das Fichte entdeckt hat, auch seine dunklen Seiten. Der italienische Literaturwissenschaftler Mario Praz hat dafür den Begriff von der "schwarzen Romantik" geprägt. Doch er sah als ihr Kennzeichen das Abgründig-erotische, was ihn veranlasste, in seiner berühmten Untersuchung über "Ritter, Tod und Teufel" auch den Marquis de Sade oder Charles Baudelaire mit diesem Etikett zu versehen. In dem Ansatz seiner Untersuchung wirkt offensichtlich noch der Einfluss von Goethes legendärem Verdikt: das Romantische ist das Kranke.

An das "Nächtliche" ausgeliefert

Bei Simone Stölzle ist das nahezu umgekehrt: Das angebliche "Kranke" ist der Normalfall, wir sind - alle und immer - an das "Nächtliche" ausgeliefert, die düsteren Figuren mit ihren finsteren Familiengeheimnissen wie Ludwig Tiecks Ekbert sind letztlich ein alltägliches Phänomen, das Tieck eben nur "romantisiert" hat. Es geht ums "Romantisieren", ein künstlerisch-intellektuelles Verfahren, das Novalis so beschrieben hat:

In den romantischen Plots, die Stölzle uns vorstellt, dominieren böse Frauen, Doppelgänger und identische Zwillinge, gespaltene Persönlichkeiten, Wiedergänger, künstliche Menschen oder jene Dämonen und Gespenster, die ja schon bei Goethe und Schiller auftauchen. Ihre Geschichte wird oft in einer verwirrenden Weise erzählt, Rahmen und Binnenhandlung verschmelzen – man denke etwa an E. T. A. Hoffmanns "Lebensansichten des Katers Murr", mit ihrer eingestreuten, fragmentarischen und durch den Kater durcheinander gebrachten Biografie des Kapellmeisters Kreisler.

Die Nachwirkungen

Simone Stölzel hat kein literaturgeschichtliches Werk verfasst, folgt keiner Chronologie und gibt uns auch kaum neue Interpretationen. Ein nicht geringer Teil ihres Buches ist gewissermaßen anthologisch aufgebaut und erlaubt auch dem, der nicht spezialisiert ist, ihren Gedanken zu folgen. Sie fixiert einen Kanon von archetypischen Figuren und Konstellationen, illustriert die darin ausgedrückte Attacke gegen die Normalität durch umfangreiche Auszüge des Originals und zeigt dann deren Nachwirkungen. Das ist ihre Leistung und das ist auch der Beweis der Vitalität der Romantik.

Von diesen Nachwirkungen sei nur eines von zahlreichen Beispielen genannt: Der romantische "böse Meister", der die Umwelt verbrecherisch manipuliert wie der "Sandmann" in Hoffmanns "Nachtstücken", findet sich in Oscar Wildes Dorian Gray als Lord Henry genauso, wie in den "Dr. Mabuse"-Filmen von Fritz Lang oder in der Gestalt des Patera in Alfred Kubins Endzeitroman "Die andere Seite". Und wenn wir das romantische Verfahren der Verbindung von absurden Konstellationen und Realität fortsetzen, dann ist der "Ritter Blaubart" einfach einer der zahlreichen Serienkiller aus Film, Fernsehen und Kriminalroman und der "Doppelgänger" hat eine rationalistische Neuauflage im "Identitätsdiebstahl" erlebt.

Das Resümee der Lektüre des Buches von Simone Stölzel ist also, dass bis heute Weltliteratur und globale Populärkultur von jener dunklen Seite der Romantik profitieren, die sie uns klug und verständlich nahegebracht hat.

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Simone Stölzel, "Nachtmeerfahrten. Die dunkle Seite der Romantik", Die Andere Bibliothek

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