Wendys Ängste

Am 9. Mai startete das Schauspielprogramm der Wiener Festwochen mit einer Theaterarbeit der spanischen Regisseurin, Performance-Künstlerin und Schauspielerin Angélica Liddell. "Der ganze Himmel über der Erde (Das Wendy-Syndrom)" lautet der deutsche Titel der Produktion, die sich zwei aktuellen Phänomenen westlicher Gesellschaften widmet: der Angst vor dem Verlassen-werden und der Angst vor dem Erwachsen-werden.

  • Szene aus "Der ganze Himmel über der Erde (Das Wendy-Syndrom)"

    (c) Nurith Wagner-Strauss

  • Szene aus "Der ganze Himmel über der Erde (Das Wendy-Syndrom)"

    (c) Nurith Wagner-Strauss

  • Mann und Frau

    (c) Nurith Wagner-Strauss

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Unter derartigen Vorzeichen kann menschliches Zusammenleben nur schmerzhaft und zerstörerisch verlaufen, lautet die Botschaft der Avantgarde-Künstlerin, die in ihren Arbeiten häufig auf extreme Weise gesellschaftliche Gewalt und seelische Abgründe thematisiert. Die aktuelle Performance ist ein Auftragswerk der Wiener Festwochen, in der spanische, deutsche und chinesische Schauspieler zu sehen sind.

Die Bühnenmusik stammt vom südkoreanischen Filmkomponisten Cho Young Wuk und erklingt live vom Wiener Ensemble für zeitgenössische Musik Phace.

Kulturjournal, 10.05.2013

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Wiener Festwochen - Todo el cielo sobre la tierra (El síndrome de Wendy) / Der ganze Himmel über der Erde (Das Wendy-Syndrom)

Peter Pan & Wendy

Immer wieder, schneller und heftiger beschwört Wendy den kleinen, aufmüpfigen Peter Pan, der neben ihr sitzt: "Geh nicht fort!" so lange, bis er sie mitnimmt auf seine Insel Neverland, dort wo er niemals erwachsen wird und sie für ihn und seine Freunde mütterlich sorgt.

Angelehnt an den Helden der Kinderliteratur bezeichnet das Peter-Pan-Syndrom Männer, die sich weigern, erwachsen zu werden. Sie scheuen sich, Verantwortung zu übernehmen und können nur existieren, wenn sie eine Frau mit dem sogenannten Wendy-Syndrom zur Partnerin haben, eine Frau also, die ihren Mann mütterlich umsorgt und weiter Kind sein lässt, ständig getrieben von der Angst, von ihm verlassen zu werden. Dieses konfliktgeladene Beziehungsmuster steht im Mittelpunkt von Angélica Liddells Stück "Todo el cielo sobre la tierra (El síndrome Wendy)", das als Auftragswerk der Wiener Festwochen zugleich das diesjährige Schauspielprogramm eröffnete.

Neverland – Utoya - Shanghai

Im Zentrum der Bühne ist ein Erdhügel angeschüttet, karg bepflanzt mit kleinen Büschen, über ihm schweben an durchsichtigen Seilen befestigt drei Krokodile, die wie bei Peter Pan die Angst vor dem Altern und der verstreichenden Lebenszeit repräsentieren. Rund um diese Insel agiert das sechsköpfige internationale Ensemble. Es ist Peter Pans Neverland und zugleich jene Insel, auf der Anders Breivik 2011 69 Jugendliche erschoss. Liddell charakterisiert Breivik als eine Extremform von Peter Pan, der neiderfüllt gegen alle Jüngeren zu dieser Handlung fähig ist. Liddell charakterisiert Breivik als eine Extremform von Captain Hook, der hass- und neiderfüllt gegen den ewig Junggebliebenen zu solch einer Handlung fähig ist.

Kurz nach Breiviks Tat zieht Liddells Protagonistin Wendy nach Shanghai, wo sie als "weißer Abschaum" am Rand der Gesellschaft lebt. Nur hier, als Ausgestoßene und Fremde spürt sie den ganzen Himmel über der Erde, wie sie sagt. In ihrer Angst vor dem Verlassen-werden unterwirft sich Wendy ihren jugendlichen Liebhabern gleichsam als Sklavin. Sie lässt sich ein auf perverse Sex- und Machtspiele, um geliebt und akzeptiert zu werden.

Walzertanzen in Shanghai

Auf ihrer Recherchereise in Shanghai hat Angélica Liddell auch eine Fußgängerzone entdeckt, in der ältere Paare täglich bis in die Nacht hinein Walzer tanzen und sie engagierte eines der Paare für ihre Performance. Zu den Walzerklängen des südkoreanischen Filmkomponisten Cho Young Wuk ziehen die beiden über 70-jährigen Amateure unermüdlich ihre Drehungen und Figuren rund um den Erdhügel und tanzen zum Beispiel den Walzer, der davon handelt, was Wendy alles tun würde, damit er sie nicht verlässt. Begleitet werden sie dabei vom österreichischen Ensemble Phace.

Theaterarbeit als "Seelenpornografie"

Die Regisseurin, Dramaturgin und Schauspielerin Angélica Liddell ist bekannt für ihre extremen, teils obsessiven Bühnendarstellungen, die sie selbst als "Seelenpornografie" bezeichnet. Auch in ihrem aktuellen Stück tanzt, singt und schreit Angélica Liddell in einer atemlosen Performance an gegen die Wendys und Peter Pans unserer Gesellschaft. Ihre Darstellung oszilliert zwischen abgrundtiefem Hass gegen die Mitmenschen und der Sehnsucht, geliebt zu werden, zwischen dem Wunsch, einsam und fremd zu sein und der Angst, verlassen zu werden. Sie schreit an gegen mütterliche Aufopferung und gesellschaftlich zelebrierte Nächstenliebe.

Mehr als zweieinhalb Stunden dauert die aufwühlende Produktion. Das sichtlich erschöpfte Premierenpublikum honorierte die schauspielerische und körperliche Leistung der Darsteller am Ende mit begeistertem Applaus.

"Der ganze Himmel über der Erde (Das Wendy-Syndrom)" ist noch bis Sonntag, 12. Mai 2013, in der Halle E des Museumsquartiers zu sehen.