Berlin-Journal von Ilma Rakusa

Aufgerissene Blicke

Schlägt man Ilma Rakusas Berlin-Journal auf, stößt man noch vor der Titelseite auf das erste von einem Dutzend Fotos. Es zeigt, schwarz-weiß, einen langen Schatten auf dem Gehsteig, vermutlich den einer Frau im Mantel.

Die 1946 in Slowenien geborenen Autorin beginnt ihr Berlin-Tagebuch mit einem fotografischen Selbstporträt, auf dem programmatisch nur ein Umriss zu erkennen ist. Auch die folgenden Texte eröffnen keine Totale, sondern widmen sich dem Detail.

"Es sind Schlaglichter", sagt Rakusa. "Ich versuche gar nicht, hier ein geschlossenes Bild, ein einheitliches Bild herzustellen, es ist gar nicht möglich. Sondern es sind Spots und es sind Momentaufnahmen, die sich, hoffe ich, doch irgendwie fügen zu diesem Reigen eines Jahrs. Das wird ja chronologisch präsentiert mit Angabe von Datum, manchmal Uhrzeit, also insofern ist es ja ein natürlicher Bogen, der sich ergibt, aber einer, der aus Momentaufnahmen, aus Fragmenten besteht, ein Mosaik kann man sagen."

Alltagsfundstücke aus Berlin

"Aufgerissene Blicke" heißt das schmale Bändchen, in dem Ilma Rakusa Eindrücke des vergangenen Jahres festgehalten hat. Zehn Monate verbrachte die Lyrikerin, Übersetzerin und Literaturwissenschaftlerin 2012 in Berlin, auf Einladung des Wissenschaftskollegs, einer angesehenen akademischen Institution. Für Rakusa, die Berlin schon seit dem Ende der 1960er Jahre kennt, eine Chance, die Stadt bewusster noch als sonst und über einen längeren Zeitraum hinweg wahrzunehmen.

Sie bewahrt in ihrem Tagebuch Alltagsfundstücke auf und gibt dem Zufälligen und Vorübergehenden auf gut hundert Seiten einen Ort. Entstanden ist kein Berlin-Reiseführer, keine Anleitung zum Flanieren, sondern das Protokoll einer Begegnung - mit einem Lebensraum, den die Autorin für mehrere Monate zu dem ihren gemacht hat. Nicht sie scheint dabei durch die Stadt gegangen zu sein, sondern vielmehr ging die Stadt durch sie.

"Ich hatte ja von Anfang an im Sinn, wenn überhaupt, dann ein literarisches Tagebuch zu führen. Also eines, das für die Publikation gedacht ist, nicht ein sogenanntes intimes Tagebuch, wie ich es seit meinem 14. Lebensjahr führe, das tu ich eh, aber das soll was anderes sein, das soll mit dieser Zeit, mit dieser Stadt, mit diesem Ort, mit diesen Begegnungen, die sich hier abspielen, zu tun haben."

Historischer 30. Jänner

Der 30. Januar in Berlin gemahnt den historisch bewanderten Zeitgenossen immer auch an den Tag, an dem Hitler Reichskanzler wurde und seine uniformierten Anhänger, Vorboten kommenden Unheils, mit Fackeln durch die Stadt zogen. Rakusa erwähnt das nicht ausdrücklich, doch öffnen ihre Notate einen Resonanzraum, der mehr als das nur das Gegenwärtige hörbar macht.

"Das ist tatsächlich etwas, was mit Berlin sehr sehr stark verbunden ist, diese Vergangenheit", meint Rakusa. "Das ist übrigens mit ein Grund, der mich Berlin so erleben lässt, als eine Stadt, die wehtut, die immer wehtut und die mich gleichzeitig unglaublich fasziniert und berührt, aber dass sie wehtut, kann ich überhaupt nicht verheimlichen. Und das finde ich sehr lebendig an der Stadt. Und gleichzeitig ist die Vergangenheit immer da wie ein Palimpsest und es ist nicht eine Vergangenheit wie in Rom, die Hunderte, Tausende Jahre zurückliegt, sondern es ist die Vergangenheit des 20. Jahrhunderts, insbesondere seit dem Zweien Weltkrieg und das ist etwas, was wir einfach nicht so schnell loswerden, da muss man sich damit auseinandersetzen."

Am Bahnhof Grunewald

"Ich war früher kaum je an diesem Bahnhof Grunewald", sagt Rakusa. "Es könnte sogar sein, dass ich zum ersten Mal das so gesehen habe und umso erschütterter war; sofort wird man mit diesem Faktum konfrontiert, das einem ja natürlich in Berlin überall entgegen tritt, aber da noch einmal auf eine sehr eindrucksvolle und irgendwie stille Weise, es ist ja jetzt nicht ein Ort in der Mitte, wo so viel Rummel ist, sondern es ist da selten ein Mensch an diesem Gleis und man kann da seinen Gedanken nachgehen und ja, die sind nicht sehr erfreulich."

Entdeckungen und Oasen

Weil Ilma Rakusa nicht sich oder ihre Befindlichkeiten in den Mittelpunkt stellt, regen ihre Notate zum Mit-und Weiterdenken an. Sie schildert Begegnungen mit Freunden, Zufallsbekanntschaften, Entdeckungen, Oasen in der Großstadt, eine türkische Konfisserie beispielsweise, irritierende Graffitis, Ausstellungen in Galerien und Museen, Theater-und Kinobesuche: Urbaner Alltag bildet sich ab durch die Membran einer kultur- und geschichtsbewussten, fein wahrnehmenden und poetisch empfindsamen Zeitgenossin.

Ilma Rakusa wuchs in Budapest, Triest und Zürich auf. Neben ihrem eigenen Schreiben, Essays, Erzählungen und Gedichten, übersetzt sie aus dem Französischen, Russischen, Serbokroatischen und Ungarischen. Dichtung bedeutet für sie, das Gefühl des Fremdseins in etwas Heimisches umzuwandeln. Das merkt man auch ihrem Berlin-Tagebuch an. Die Autorin schreibt, um sich zu verbinden. Sie vergewissert sich der Plätze und Geschehnisse, um da sein zu dürfen. Und bleibt, bei aller Empathie, Beobachterin.

Die Einsamkeit des Beobachters

"Das wäre so ein implizites Leitmotiv vielleicht, das mich doch immer begleitet in allen meinen Büchern, dieses Motiv der Einsamkeit, das hat auch ein bisschen mit mir zu tun. Ich geh schon meistens allein durch die Straßen, wenn ich eine Stadt erkunde, ob Berlin oder eine andere Stadt, und eben dieses Moment, dass ich da stehe und zum Beispiel in ein beleuchtetes Fenster reinschaue oder überhaupt so beobachte, dieses Gefühl des Voyeuristischen, des bisschen Außenstehens, ich beobachte, aber ich gehöre nicht ganz dazu. Das ist ein Lebensgefühl, das mich nicht unglücklich macht, aber es ist ein Lebensgefühl, nicht ganz dazu zu gehören. Und das hat möglicherweise auch mit meiner ganzen Kindheit zu tun, mit den vielen Umzügen, mit meiner Heimatlosigkeit, das muss man alles gar nicht dramatisch und sehr emphatisch betrachten, aber es ist trotzdem eine Tatsache."

Es ist ein kleines Werk, das die Autorin hier vorlegt. Eine charmante Gelegenheitsarbeit, die einlädt, selber wach durch eine Stadt zu gehen und dem nachzusinnen, was einem dort begegnet.

Service

Ilma Rakusa, "Aufgerissene Blicke. Berlin-Journal", Literaturverlag Droschl

Droschl Verlag