Eine kurze Geschichte der Innovation
Wo gute Ideen herkommen
Es sind nicht die "Heureka!"-Momente, denen wir die größten Innovationen der Menschheitsgeschichte zu verdanken haben. Steven Johnson räumt mit dem Mythos der spontanen Geistesblitze auf und zeigt vielmehr, wie aus Ahnungen -langsam aber sicher - nachhaltig erfolgreiche Ideen werden.
8. April 2017, 21:58
Was haben ein Korallenriff, eine Großstadt und das World Wide Web gemeinsam? Alle drei schaffen Umweltbedingungen, die Innovationen fördern bzw. beschleunigen. So wie die tierischen Bewohner eines Riffs zwangsläufig zusammenarbeiten müssen, um in der kargen Natur zu überleben, wird auch in Großstädten und im World Wide Web die wichtigste aller Ressourcen unweigerlich weitergegeben, neu verknüpft und wieder verarbeitet: Information.
Hier folgt gleich die erste Aufforderung an den Leser: Wer Innovationen fördern will, ist besser beraten, Ideen zusammenzuführen, anstatt sie vor den Blicken anderer zu schützen.
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Wenn man die Geschichte von Innovationen in Natur und Kultur unvoreingenommen betrachtet, stellt sich heraus, dass Umgebungen, in denen gute Ideen abgeschirmt werden, auf lange Sicht weniger innovativ sind als offene Umgebungen. Gute Ideen müssen nicht vollkommen ungeschützt sein, aber sie wollen sich verbinden, miteinander vermischen und neu kombinieren. Sie wollen gedankliche Grenzen überschreiten und sie dadurch selbst neu erfinden. Sie wollen sich gegenseitig vervollständigen, genauso, wie sie miteinander in Wettbewerb treten wollen.
Die langsame Ahnung
Darauf aufbauend beschreibt der Autor sieben Muster, die Kreativität und Ideenfreude fördern, und beginnt eine Reise durch die Geschichte der naturwissenschaftlichen und technologischen Innovationen der Menschheitsgeschichte.
Nachdem der Autor das Potenzial von naheliegenden Ressourcen und kommunikationsfreundlichen Büroräumen erläutert, geht es bereits im dritten Kapitel dem spontanen Geistesblitz an den Kragen: In "Die langsame Ahnung" nennt Johnson zahlreiche Beispiele von Wissenschaftlern, die ihre Ideen über Jahre und Jahrzehnte mit sich herumtrugen, bevor sie daraus eine konkrete Innovation machen konnten.
Unter ihnen Joseph Priestley, dessen Entdeckung des Sauerstoffs und der pflanzlichen Atmung schließlich zur Beschreibung der Photosynthese geführt haben. Zwischen dem ersten Ideenfunken und dem tatsächlichen Experiment lagen im Fall des englischen Wissenschaftlers ganze zwanzig Jahre.
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Eine langsame Ahnung am Leben zu erhalten, stellt auf mehreren Ebenen eine Herausforderung dar. Grundvoraussetzung ist, sie überhaupt im Gedächtnis zu behalten, im dichten Netzwerk der Gehirnzellen. Die meisten langsamen Ahnungen überleben nicht lange genug, um sich in etwas Nützliches zu verwandeln. Eben weil sie zunächst nicht greifbar sind, verschwinden sie genauso schnell wieder aus dem Gedächtnis, wie sie gekommen sind. Wir haben das Gefühl, auf etwas Interessantes gestoßen zu sein, auf ein Problem, das uns eines Tages zu einer Lösung führen könnte, doch dann werden wir von drängenderen Angelegenheiten abgelenkt, und die Ahnung ist wieder weg. Ein Teil der Kunst, ein Ahnung zu kultivieren, besteht in einem ganz einfachen Trick: alles aufschreiben.
Der Zufall
Ohne glückliche Zufälle kommt jedoch auch die Geschichte der Innovation nicht aus. Doch diese "Serendipität" – ein wenig holprig vom englischen "serendipty" abgeleitet - will kultiviert sein. Denn um zufällig über eine geniale Idee zu stolpern – sei es im Archiv, im Internet oder im eigenen Unbewussten – müssen die Grundzüge der Idee bereits vorhanden sein und wir müssen die Möglichkeit bekommen, unseren Spürsinn zu aktivieren. Um dem Zufall effizient auf die Sprünge zu helfen, plädiert Steven Johnson für offene Netzwerke, vor allem in Instituten und Unternehmen.
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Solche Informationsnetzwerke verbinden auf geniale Weise individuelle mit kollektiver Intelligenz: Hat ein Einzelner eine spannende und nützliche Idee, kann die Gruppe helfen, diese Idee zu vervollständigen und sie mit anderen Ideen zu verknüpfen, die bereits im System zirkulieren. Die Bewertungen wiederum helfen, eine gute Idee aus Tausenden anderen, weniger nützlichen herauszufiltern. Indem sie Ideen öffentlich machen und gleichzeitig dafür sorgen, dass sie in der Datenbank gespeichert bleiben, schaffen solche Systeme eine firmenweite Plattform für Serendipität. Sie verschaffen guten Ideen neue Möglichkeiten, sich zu verknüpfen.
Der missglückte Versuch
Auch dem Irrtum und der Zweckentfremdung sind in Johnsons Buch "Wo gute Ideen herkommen" ganze Kapitel gewidmet. Sie zeigen, dass etwa der missglückte Versuch des amerikanischen Erfinders Lee de Forest, drahtlose Telegraphie zu ermöglichen, zur Entwicklung der gasgefüllten Audion-Röhre geführt hat, die wiederum die Entwicklung von Radio, Fernsehen und schließlich Computern möglich gemacht hat.
Oder dass Johannes Gutenberg die Druckerpresse nicht erfunden, sondern schlicht eine Spindelpresse aus der Weinproduktion mit vorhandenen Bestandteilen umgebaut und so im besten Sinn zweckentfremdet hat.
Steve Johnson schließt mit einem Plädoyer für die nicht-marktorientierte Innovation. Er spricht sich für die Förderung von Grundlagenforschung und gegen einen allzu starken Fokus auf anwendungsorientierte Forschung aus.
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Die wenigsten von uns haben die Möglichkeit, direkten Einfluss auf die Informationspolitik und wirtschaftliche Ordnung in unserer Gesellschaft zu nehmen, doch tun wir es zwangsläufig indirekt, indem wir uns zum Beispiel für einen Arbeitsplatz im öffentlichen oder im privaten Sektor entscheiden. Die vielleicht schönste Erkenntnis, die wir mithilfe des langen Zooms erlangt haben, ist folgende: Die Innovationsmuster wiederholen sich auf verschiedenen Ebenen. Wir können aus unserer Regierung zwar kein Korallenriff machen, aber wir können in unserem Alltag vergleichbare Umgebungen schaffen: am Arbeitsplatz, durch die Art, wie wir Medien nutzen oder unserem Gedächtnis auf die Sprünge helfen. Die Muster sind denkbar einfach, doch zusammengenommen ergeben sie ein Ganzes, das weit mehr kann, als die Bestandteile.
Der Weg zur Idee
Auf den 300 Seiten hat der Wissenschaftsjournalist Steven Johnson fast alles zusammengetragen, was es zur Geschichte und den Entstehungsbedingungen von bahnbrechenden Innovationen zu sagen gibt. Allein die Kunst, Kultur- und Sozialwissenschaften kommen in dem spannend geschriebenen Buch zu kurz.
Dass es sich bei "Wo gute Ideen herkommen" nicht um einen Ratgeber im klassischen Sinn handelt, schadet dem Buch dagegen überhaupt nicht. Und die wenigen Empfehlungen, die der Autor seinen Lesern mitgibt, sind durchwegs in die Tat umzusetzen: Gehen Sie spazieren; machen Sie sich Notizen; legen Sie sich Hobbys zu, die Ihren Horizont erweitern; setzen Sie sich ins Kaffeehaus und reden Sie mit anderen Leuten; lassen sie andere auf Ihren Ideen aufbauen und tun Sie das Gleiche: So erfinden Sie neu.
Service
Steven Johnson, "Wo gute Ideen herkommen. Eine kurze Geschichte der Innovation", aus dem Englischen von Michael Pfingstl, Scoventa Verlag
Scoventa Verlag