Philosophisches von David Markson

Wittgensteins Mätresse

"Ich habe keine Ahnung, was ich mit diesem Satz meine, den ich gerade tippe. Nebenbei bemerkt." Sätze wie diesen schreibt die Hauptfigur aus David Marksons Roman "Wittgensteins Mätresse" aufs Papier.

Dem wachen Leser ist zudem aufgefallen, dass die Verfasserin permanent Sätze mit Wendungen beginnt wie "in jedem Fall" und "Tatsache ist". Und dann notiert sie jenen Satz, mit dem Ludwig Wittgensteins berühmte Abhandlung "Tractatus-logico-philosophicus" beginnt: "I. Die Welt ist alles, was der Fall ist. I.I. Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge."

Ludwig Wittgenstein wollte in seinem philosophisch-mathematischen Erstlingswerk die Welt, wie wir sie sehen, in logisch formulierte Tatsachen ordnen, dabei griff er auch auf einen sehr frei gewählten Bildbegriff zurück, gelangte zu Problemstellungen wie dem Solipsismus und kritisch auch zur metaphysischen Welterfassung. Der "Tractatus" ist heute noch ein Werk, an dem sich philosophische Dogmatiker die Zähne ausbeißen.

Allein auf der Welt

Doch keine Angst! David Marksons Roman, der erstmals 1988 publiziert wurde, ist kein literarisch verbrämter Philosophentext, denn das Gedankenexperiment, das er seinem Prosatext zugrunde legt, ist handfest und - Gott sei Dank! - utopischer Natur:

Seine Heldin, die Malerin Kate, hat scheinbar als einziger Mensch die Apokalypse, den Supergau überlebt. Außer ihr lebt nichts und niemand mehr auf der Welt. Was aber bedeutet dann Wittgensteins Satz "Die Welt ist alles, was der Fall ist", wenn nur noch ein Mensch da ist, der ihn sprechen, schreiben, verneinen, bejahen kann. Was heißt überhaupt Welt, wenn nur noch einer da ist, der Welt hat?

Kate spricht nicht nur über Wittgenstein, sie kennt auch andere Philosophen wie Pascal, Kierkegaard und Heidegger. Martin Heidegger sprach gern vom "Haus der Sprache", in dem das Sein wohne, also auch alles Seiende, alle Dinge. Mittels Sprache kämen sie ins menschliche Bewusstsein, würden in etwa das, was Wittgenstein "Tatsachen" nennt. Nun lebt Kate in einem Haus, das äußerst unsolide gebaut worden ist, ein Nachbarhaus ist gar abgebrannt. Will heißen: Was kann Sprache noch leisten, in dem Moment, wo es nur noch einen einzigen Sprecher gibt und damit das "Haus der Sprache" zur grausigen, unsicheren Behausung des letzten Menschen verkommt?

Alles ist Spur

David Markson ist ein amerikanischer Autor, der vor allem bei der Kritik und bei seinen Schriftstellerkollegen hohes Ansehen genießt. Dies deswegen, weil er das Gedankenexperiment sucht und sich in seinen Werken als Kenner der europäischen und amerikanischen Geistesgeschichte zu erkennen gibt. 2010 verstarb Markson, zuvor veröffentlichte er noch seinen Roman mit dem Titel "The last novel."

In "Wittgensteins Mätresse" ist das Experiment eine klare Sache: Was heißt, sprachlich, gedanklich, existenziell Welt-Haben, wenn es nur noch einen Menschen gibt, der auf der Welt ist? Neben dem philosophischen Aspekt tut sich alsbald ein anderer auf, den Elfriede Jelinek in ihrem Text zu Marksons Roman klar bezeichnet: "Und alles ist Spur, falls man keine findet oder nur Spuren findet."

Welt-Haben äußert sich durch sprachliches Verhalten - aber auch durch das, was man in Sprache festhalten kann, etwa die Kultur. Die einsame Kate hat Europa bereist, einige Zeit lebte sie im Louvre, umgeben von Tafelbildern, die eben zu den Kulturschätzen dieser Welt gehören. Als Malerin sinniert sie ebenso über Robert Rauschenberg wie Leonardo da Vinci; William Gaddis ist Kates Lieblingsschriftsteller; Werke von Brahms und Schostakowitsch hört sie besonders gerne. Auch über Architektur weiß sie einiges zu sagen. Das heißt, in Marksons Roman sind die Spuren der menschlichen Zivilisation, deren künstlerischen und kulturellen Leistungen, gegenwärtig - nur führen sie immer wieder zu Kate zurück, zu jenem letzten Menschen, der sagen, denken und schreiben kann, was der Fall ist.

Hauptthema mit Variationen

Und so ist alles, was der Fall ist, eigentlich hinfällig. Welt-Haben, Kunst und Kultur, sind Spuren im Sand, zu denen man immer wieder zurückkehrt und merkt, dass man sich im Kreis bewegt. So notiert Kate an einer Stelle im Roman: "Übrigens gibt es eine Erklärung dafür, dass ich allgemein von Kierkegaard als Kierkegaard spreche, aber von Heidegger als Martin Heidegger."

Etwas später schreibt dann Kate: "Übrigens habe ich keine Erklärung, warum ich allgemein von Pascal als Pascal spreche, aber von Friedrich Nietzsche als Friedrich Nietzsche."

David Marksons Roman ist auf Wiederholung aufgebaut - ähnlich wie ein Musikstück, das ein Hauptthema hat und dann variationsreich dieses mit Nebenthemen repetitiv verbindet. Alles, was der Fall ist, ist Spur. Doch die Spur ist eine, die sich im Sand verläuft. Denn Spurengeber, Spurensucher und Spurenfinder sind ein und dieselbe Person: die Malerin Kate. Diese Bewegung bildet auch eine Art Klammer des Romans.

Auf Sand gebaut

Zu Beginn von "Wittgensteins Mätresse" heißt es:

Und der letzte Satz im Roman lautet: "Jemand lebt an diesem Strand."

Jedes Kind weiß, wie es ist, wenn man am Strand Zeichen, Botschaften, seinen eigenen Namen in den Sand markiert hat: Das Wasser, die Welle, die Flut kommt und löscht die Spur aus. Bei der Malerin Kate ist es so, dass sie als Adressat ihrer Sprach-Zeichen zugleich deren Empfänger ist. Kate schreibt alles nieder, was der Fall ist, doch diese Spur kehrt zu ihr zurück, läuft also im Kreis, verläuft sich, wird sinnlos. Kate, der letzte Mensch, kann nur Sprach-Spuren setzten, die sich letztlich selbst auslöschen.

Das "tief geheimnisvolle" Ich

In David Marksons Roman wird allerdings auch viel über den Wahnsinn nachgedacht. Vielleicht ist ja Kate megaloman, also größenwahnsinnig und glaubt bloß, der letzte und einzige Mensch zu sein - das "große Ich"! Aber auch dann würde sie sich der Philosophie Wittgensteins annähern. Denn im "Tractatus-logico-philosophicus" beschäftigte er sich auch mit eben diesem dem Problem: "5.621: Die Welt und das Leben sind eins. 5.63: Ich bin meine Welt (der Mikrokosmos)."

Wenn aber Welt und Leben komplett zusammenfallen, weil das Ich das einzig existierende ist, dann mutiert es zum Solipsismus und verfällt dem Wahn der Einzigkeit. In seinen "Tagebüchern 1914-1916", die man als Vorstudie zum "Tractatus" lesen kann, notierte Wittgenstein voll Verzweiflung: "5.8.16. Das Ich, das Ich ist das tief Geheimnisvolle!"

Mit seinem Roman hat David Markson jenem "Ich" als das "tief Geheimnisvolle" einen Sonder-Platz in der Literatur geschaffen, von dem aus "alles, was der Fall ist" in eine fatale Letztbegründung mündet. Von daher gesehen ist die Übersetzung des Originaltitels "Wittgenstein's Mistress" nicht ganz gelungen. Denn "Mistress" meint im Englischen nicht nur Mätresse, sondern auch Geliebte, Herrin, Meisterin. Die Malerin Kate - als letzer Mensch - ist all das für die Philosophie Wittgensteins. Sie setzt dem "Ich", "der Welt" und "allem, was der Fall ist" ein Denkmal, eines allerdings, das als Spur im Sand sich verläuft. Ohne Zweifel, David Markson hat mit seinem Roman etwas Bestimmtes hinterlassen: a masterpiece, ein Meisterwerk von einem literarischen Gedankengebäude.

Service

David Markson, "Wittgensteins Mätresse", aus dem Englischen von Sissi Tax, Berlin Verlag

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