Die erste Weltwirtschaftskrise
Florian Presslers kleine Geschichte der Großen Depression.
8. April 2017, 21:58
Als sich die Siegermächte des Ersten Weltkrieges 1919 in Paris versammelten, um über die europäische Nachkriegsordnung zu verhandeln, war ein junger Ökonom aus Cambridge Teil der englischen Delegation.
Einer, der damals noch eher durch seinen exzentrischen Lebensstil als durch epochemachende wirtschaftstheoretische Schriften von sich reden machte.
Nichtsdestotrotz – so behauptet zumindest der Augsburger Wirtschaftswissenschaftler Florian Pressler in seiner "kleinen Geschichte der großen Depression" – hat John Maynard Keynes schon damals "klarer als kein anderer" die Keimlegung für den Zweiten Weltkrieg in dem Versailler Vertrag erkannt.
Dass die Ergebnisse von Versailles mit ihren unerbringlichen Reparationsforderungen an Deutschland für die Weimarer Republik eine schwere Bürde gewesen sind, die den antidemokratischen Kräften Rückenwind gaben, gilt heute als geschichtswissenschaftlicher "common sense". Aber auch sonst ließ Keynes kein gutes Haar an den Verhandlungsergebnissen.
Zitat
"Dieses Kapitel muss ein pessimistisches sein. Der Vertrag enthält nichts um Europa wirtschaftlich wieder aufzurichten, nichts um die besiegten Mittelmächte zu guten Nachbarn zu machen, nichts um die neu entstandenen europäischen Staaten zu stabilisieren, nichts um Russland für Europa zurückzugewinnen. Er befördert noch nicht einmal irgendein Bündnis wirtschaftlicher Solidarität unter den Alliierten selbst. In Paris wurde keinerlei Vereinbarung getroffen, um die aus dem Ruder geratenen öffentlichen Finanzangelegenheiten Frankreichs und Italiens wieder aufzurichten oder die wirtschaftlichen Systeme der Alten und der Neuen Welt aufeinander abzustimmen."
In regional und zeitlich sortierten Kapiteln zeichnet Pressler nach, wie unterschiedlich sich die nationalen Volkswirtschaften in den 1920er Jahren entwickelt haben, um am Ende dann doch allesamt in der Großen Depression anzukommen, für die er den "Black Thursday", also den Börsencrash vom 24. Oktober 1929, der zeitverschiebungsbedingt in Europa bereits ein Schwarzer Freitag gewesen ist, nicht ursächlich sieht, sondern lediglich als schweres Symptom einer längst chronisch kranken amerikanischen Volkswirtschaft.
Und so lässt es Pressler denn auch nicht gelten, wenn der damalige US-Präsident Herbert Hoover in seinen Memoiren behauptet, dass die Weltwirtschaftskrise von Europa in die USA übergeschwappt sei. Sachkundig zeichnet Pressler die Wirtschaftspolitik Hoovers nach, der jede direkte staatliche Intervention vehement ablehnte und 1932 von einem enttäuschten Volk abgewählt wurde, das Franklin D. Roosevelt zu seinem neuen Präsidenten machte.
Roosevelt peitschte jede Menge von bundesstaatlichen Durchgriffsrechten durch den Kongress und versuchte mittels Arbeitsbeschaffungsprogrammen und staatlichen Infrastrukturprojekten die Konjunktur anzukurbeln, wenngleich auch ihm – und da unterschied er sich kaum von Hoover – möglichst ausgeglichene Staatshaushalte heilig waren.
Das von Keynes propagierte "deficit spending" machte in der politischen Praxis erst in den Jahrzehnten nach dem nächsten Weltkrieg Schule. Auch wenn der Autor um Objektivität bemüht ist, so lässt er zwischen den Zeilen immer wieder durchblicken, wem seine wirtschaftstheoretischen Sympathien gelten. Dass die Nationalsozialisten "linke" Wirtschaftspolitik gemacht haben – wenngleich zum übelsten Zweck -, ist keine ganz neue These, aber die direkte Gegenüberstellung mit der Ära Roosevelt fördert da und dort doch Erstaunliches zutage.
In Summe gelingt dem Autor eine anschauliche Überblicksdarstellung der Wirtschaftsgeschichte der vergangenen 80 Jahre. Ein kurzer, aber umso aufschlussreicherer Blick über den europäischen und amerikanischen Tellerrand hinaus vollzieht nach, wie sehr sich durch die westlichen Anstrengungen zur Überwindung der Depression die strukturellen Abhängigkeiten der später so genannten Entwicklungsländer verfestigt haben.
Immerhin räumt der unverkennbare Keynesianer Pressler ein, dass Milton Friedmans Monetarismus den Keynesianismus sinnvoll mitmodifiziert hat und selbst Friedrich August von Hayek, der naturgemäß sein Fett abkriegt, werden einige Verdienste attestiert.
Im resümierenden Schlussteil fragt der Autor, was die Politik zur aktuellen Krisenbewältigung aus der Geschichte lernen kann, welche Parallelführungen zulässig sind oder auch nicht. Die umgehenden Gespenster werden nicht nur von links außen ins gesellschaftliche Feld geschickt, sondern kommen längst auch aus dessen etablierter Mitte.
Zitat
"So sprach beispielsweise die ehemalige französische Finanzministerin und heutige Chefin des Internationalen Währungsfonds, Christine Lagarde, noch 2011 bei verschiedenen Anlässen von einem 'Dreißiger-Jahre-Moment' — einem möglichen Rückfall in eine Große Depression mit all ihren Konsequenzen. Bei einer Rede im amerikanischen Außenministerium erklärte sie in Anspielung auf den aus der Depression erwachsenen Zweiten Weltkrieg: 'Arbeiten die Staaten der Erde nicht zusammen, verfällt die Politik in Rückzug, Protektionismus und Isolation. Das passierte in den Dreißigern, und was darauf folgte, ist nichts, worauf wir uns freuen sollten."
Auch wenn Presslers Darstellung eine eindeutige Schlagseite hat, leistet sie auf gut 200 Seiten eine ganze Menge, weil sie faktenreich und in einer weitgehend konzisen Sprache deutlich macht, wie sehr es heute mehr denn je einer international akkordierten Wirtschaftspolitik inklusive einer funktionierenden Finanzmarktaufsicht bedarf und wie protektionistische Tendenzen zu allen Zeiten in allen Staaten diesen letztlich selber am meisten geschadet haben.
Service
Florian Presslers, "Die erste Weltwirtschaftskrise, Florian Presslers kleine Geschichte der Großen Depression", C. H. Beck Verlag