200 Jahre Radfahren in Wien

Motor bin ich selbst

Radfahrbegeisterte und die Stadt Wien haben seit jeher eine stark emotional geprägte Beziehung. Denn seit der Erfindung des Fahrrads stand die Stadtverwaltung dem Fortbewegungsmittel ambivalent gegenüber.

Hochräder waren auf Grund ihres Rahmens und der ungleichgroßen Räder sehr instabil. Unfälle waren die Folge.

Ende des 19. Jahrhunderts, sagt der Historiker Bernhard Hachleitner, kam es zu einem regelrechten Boom rund um das neue Niederrad - und die Stadtverwaltung hob das Radfahrverbot schließlich auf.

"Dieser erste Radfahrboom wo dann die allgemeine Erlaubnis des Radfahrens gekommen ist, hängt zusammen mit einer technischen Entwicklung. Vom Hochrad ist dann zum Safety übergegangen worden. Das Safety, wie man es damals genannt hat, weil es weniger gefährlich ist, als die doch sehr gefährlichen Hochräder, war im wesentlichen dann ab etwa 1890/1895 das Fahrrad in der Form in der wir es heute kennen: zwei gleich große Räder, Antrieb mit Kette", sagt Bernhard Hachleitner.

Ein billiges Verkehrsmittel

Fragen der Infrastruktur und Verkehrspolitik werden in den 21 Aufsätzen des von Bernhard Hachleitner herausgegebenen Buchs „Motor bin ich selbst“ ebenso behandelt wie kulturhistorische, philosophische und politische Themen. Letztere berühren nicht nur Umweltfragen sondern auch die Gesellschaftspolitik. Ein Kapitel ist der Rolle des Fahrrads für die Emanzipation der Frauen in Wien gewidmet.

Nicht nur für die Frauen, auch für die Arbeiterbewegung spielte das Fahrrad eine wichtige Rolle. Als billiges Verkehrsmittel diente es der Verbreitung von Nachrichten, machte Treffpunkte erreichbarer und führte zur Gründung zahlreicher Arbeiterradfahrvereine, die sich der sportlichen Ertüchtigung und Freizeitaktivitäten widmeten.

Die Radfahrkultur der Arbeiter wurde nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch durch eine umfassende, von der Wiener Sozialdemokratie geförderte Motorisierung abgelöst. Die Folge war das Verschwinden des Fahrrads aus dem Stadtbild. Seinem Wiederauftauchen und den damit einhergehenden Konflikten ist ein weiterer Teil des Buches gewidmet.

Ein Vergnügen

Bis heute sind die Konflikte, die mit der neuen Radkultur einhergehen nicht zufriedenstellend gelöst. Sich mit historischen Konflikten zu beschäftigen ist in diesem Zusammenhang durchaus lehrreich und mit dem Band „Motor bin ich selbst“ auch ein Vergnügen.

Der Band ist sorgfältig recherchiert, und mit zahlreichen Abbildungen illustriert. Zeichnungen, Karikaturen, Plakate, Inserate, Fotografien, Zeitungsartikel, Flugschriften, sowie historische Land- und Ansichtskarten ergänzen den Text.

Wer sich für die Entwicklung Wiens zur modernen Großstadt interessiert, wird hier neue Eindrücke aus der Perspektive von Radfahrerinnen und Radfahrern gewinnen. Schade nur, dass ein abschließendes Kapitel zur aktuellen Situation rund um das Fahrrad in Wien fehlt.

Ergänzend zur Fülle des historischen Materials würde man sich einen Abriss der aktuellen Pläne der Stadtverwaltung für die Zukunft des Radfahrens in Wien ebenso wünschen wie statistisches Material zum status quo.

Service

Herausgegeben von Bernhard Hachleitner, Matthias Marschik, Rudolf Müllner und Michael Zappe, "Motor bin ich selbst. 200 Jahre Radfahren in Wien", im Auftrag der Wienbibliothek im Rathaus.
Erschienen im Metro Verlag, 2013.