Der gefährliche Auftrag von Varian Fry
Mit dem letzten Schiff
Die Nazis hatten am 14. Juni Paris erobert. Dann hatte General Pétain in Vichy den Friedensvertrag unterzeichnet mit dem berüchtigten Artikel 19: Frankreich verpflichtet sich, auf Verlangen Nazigegner an die deutsche Regierung auszuliefern.
8. April 2017, 21:58
Am 25. Juni 1940 berät sich im New Yorker Hotel Commodore das Emergency Rescue Committee, wie man die Tausenden Künstler und Intellektuellen, die nach Frankreich geflohen waren, von dort nun in Sicherheit bringen kann. Am Rednerpult ist Erika Mann. Es gelte eiligst Affidavits, Notvisa, Geld für Transitgenehmigungen und Schiffspassagen aufzutreiben. Und nicht nur das. "Ein Vertreter des Komitees musste hingeschickt werden, über den Ozean, mitten in den Hexenkessel von Marseille", schreibt die Schweizer Autorin Eveline Hasler und steckt die historische Marke ihres Romans umgehend ab.
Wie der Untertitel vorwegnimmt, ist dieser "jemand" Varian Fry. Jener Journalist, dessen reale Person gerne als "amerikanischer Schindler" gehandelt wird. So erfährt man auch im Epilog, dass Varian Fry in der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem geehrt und damals als einziger Amerikaner in die Liste der "Gerechten unter den Völkern" aufgenommen wurde.
Kunstfreund Fry
Hasler zeichnet den jungen New Yorker als Mittdreißiger, der sich schon während seiner Studienzeit in Harvard und später als Korrespondent intensiv mit zeitgenössischer Kunst und den Mechanismen der Diktatur auseinandergesetzt hat. Als ruhigen, in sich gekehrten und konventionell anmutenden Menschen, dem dennoch etwas rebellischen innewohnt.
Zitat
Ausgestattet mit dreitausend Dollar und der Namensliste von zweihundert Menschen, die er retten sollte, doch ohne Vorstellung, wie das praktisch zu bewerkstelligen sei, erreichte Varian Fry am 16. August 1940 Marseille.
Glaubt man nach dem ersten Kapitel Varian Fry umgehend näher kommen zu können, liegt man allerdings falsch, denn die Reise beginnt nicht mit ihm und nicht in Marseille; sondern in dem Pariser Hotel De L'Univers, einer Zufluchtsstätten für verfolgte Juden, Regimegegner und Künstler aller Art.
Literarische Zitate
Einer der Gäste dort ist der Satiriker Walter Mehring. Im Hotel lässt ihn die Autorin eine Flasche Wein wie ein Baby im Arm wiegen und nach dem Verbleib von Ödön von Horváth fragen. Nur um kurz darauf zu erfahren, dass dieser eben auf den Champs-Élysées tödlich von einem Ast getroffen wurde. Woraufhin Eveline Hasler aus Mehrings Heft zitiert:
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Doch Horváth, den ein Baum erschlug / Damit solch Kleinod im Exil / Den Säuen nicht zum Fraße fiel / Starb ganz er selbst: ein Satyr-Spuk.
In dem 220-seitigen Roman bedient sich die Autorin mehrfach literarischer Zitate der auftretenden Künstler. Die sprachliche Kraft dieser Zitate mag zwar den Erzähltext etwas in den Schatten stellen, schafft aber einen Blick, der bekannten Bildern - wie Horváths Tod - eine neue Dimension hinzufügt.
Mehrere Erzählstränge
Fry selbst tritt erst nach 60 Seiten wieder in die Handlung ein. Und ehe die Autorin ihn im Marseiller Hotel Splended sein Büro einrichten lässt, werden noch weitere Handlungsstränge angerissen. Etwa die Flucht des minderjährigen Justus Rosenberg, später Frys Laufjunge, und seines Freundes nach Toulouse; wo man auch auf Franz Werfel und Alma Mahler trifft, oder auf die beiden Politiker Rudolf Breitscheid und Rudolf Hilferding.
Wie im Sog lesen sich die Passagen der Flucht. Chaotisch und bruchstückartig, mit fortlaufend neuen Namen. Dazwischen baut Hasler schließlich einen weiteren Erzählstrang auf – die Geschichte zweier Krankenschwestern im Kinderheim La Hille und dem "berüchtigten" Konzentrationslager Gurs. Auf sie wird im Verlauf des Romans immer wieder zurückgegriffen. Warum, ist nicht ganz klar, gäbe es doch allein aus Frys Umfeld genug zu erzählen.
Bis sich die meisten Protagonisten in Marseille einfinden, haben sich also viele Wege gekreuzt. Und während Varian Frey zunehmend auch illegale Maßnahmen ergreift, um seine Schützlinge außer Landes zu bringen, tauchen immer neue Namen auf. Je näher die deutschen Truppen rücken, umso mehr werden es: Lion Feuchtwanger, Marc Chagall, Walter Benjamin, Victor Serge, André Breton, die Kunstmäzenin Peggy Guggenheim, Familie Hessel oder Max Ernst.
Berühmte Figuren
Es scheint, als habe sich die Autorin an der umfassende Liste Frys orientiert, was dazu führt, dass es bis auf wenige Ausnahmen bei einer groben Skizze der einzelnen Personen und ihrer Lage bleibt. Von Max Ernst erfährt man etwa, dass er einen Schafpelz trägt, von Chagall, dass Fry dessen Bilder liebt; von Werfel, dass er wohlbeleibt ist und von Alma Mahler, dass sie mit zwölf Koffern über die Pyrenäen flüchtet - ein Bild, das sich bei aller Dramatik der Komik nicht verwehren kann.
Doch, ihre Bildhaftigkeit verdankt die turbulente Handlung mehr den berühmten Figuren als der literarischen Detailarbeit. Insbesondre bei der Beschreibung von Frauen würde man sich etwas aussagekräftigere Attribute als "schön" wünschen. In den 23 Kapiteln wechselt die Perspektive fortwährend und lässt den Erzähl-Charakter stellenweise fast fragmentarisch werden. Ohne profunde Kenntnis der berühmten Akteure, kann man sich beim Lesen schnell im Namensgewirr verlieren. Die Schicksale einzelner, unbekannter Personen, denen ein Listenplatz verwehrt war, bleiben ausgespart. Nur en passant verweist Hasler auf sie. Dafür mit einer Nüchternheit, die vielleicht genau dadurch umso pointierter wirkt. Etwa, wenn sie Mehrings Gang durch die Toulouser Innenstadt beschreibt:
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Die alte Dame aus Wien, in übereinander angezogenen schwarzen Kleidern, saß aufgeplustert vor einem Kaffee, ein Unglücksvogel. Sie hatte auf der Flucht den blinden Sohn verloren, nun schrieb sie an einem Tischchen eine Suchmeldung. Zettel mit Vermisstenanzeigen bedeckten die Wände des Rathauses, am häufigsten fehlten nach den Luftangriffen Kinder.
Eine wenige bekannte Geschichte
Die Person Varian Fry scheint sich dem Leser jedoch bis zum Epilog zu entziehen. Der dokumentarische Versuch Haslers, sein Porträt zu erweitern, indem sie sein unglückliches Liebesleben und die eventuelle Homosexualität schildert, tragen zum Verständnis dieses Mannes und seiner gewaltigen Arbeit in Marseille jedenfalls nicht bei.
Hätte man sich auch etwas mehr fiktive Feinarbeit gewünscht, so ermöglicht Eveline Hasler im Roman "Mit dem Letzen Schiff" dem entfernten Leser einen packenden Zugang zu der wenig bekannten Geschichte von Varian Fry. Vielleicht empfiehlt sich das Buch aber vor allem aus einem Grund – weil die Autorin es schafft, dass Fragen von Identität und politischer Willkür über den Roman hinaus unbehaglich aktuell klingen.
Service
Eveline Hasler, "Mit dem letzten Schiff. Der gefährliche Auftrag von Varian Fry", Nagel & Kimche