Klaus Schöning und Martin Esslin dominieren den Ö1 Hörspielsommer

Große Männer

Ob die Geschichte nun in der Tat von einzelnen Persönlichkeiten vorangetrieben wird oder ob Entwicklung und Fortschritt gleichsam einem Automatismus folgen, an dessen Bruchstellen und Verwerfungen einzelne Persönlichkeiten eher zufällig ins Rampenlicht geraten,

darüber streiten Philosophen und Historiker bis zum heutigen Tag. Man liegt aber mit Sicherheit nicht falsch wenn man sagt, dass es Individuen sind, einzelne herausragende Persönlichkeiten, die neuen Bewegungen eine Stimme, ein Gesicht und ihren Ausdruck verleihen. Was wäre die Anti-Apartheid-Bewegung ohne Nelson Mandela, die indische Befreiungsbewegung ohne Mahatma Gandhi, der Pariser Mai ohne Daniel Cohn-Bendit, die Rockgeschichte ohne die Rolling Stones und die digitale Revolution ohne Bill Gates?

Rote Behälter im Sand

(c) VAN DER VEEN

Auch in der Geschichte des Hörspiels haben einzelne Persönlichkeiten, Männer zumeist, Richtungsänderungen eingeleitet, Kreuzungspunkte markiert, das Genre entwickelt, verändert und neu definiert. Wobei der eine, Martin Esslin, der ältere der beiden, das Hörspiel durchaus noch als Radiobühne verstand. Als Leiter der Drama-Abteilung der BBC (von 1961 bis 1977) suchte er europa- und weltweit den Kontakt zum zeitgenössischen Theater. Er kannte Brecht und Günter Grass, Jean Genet und Eugène Ionesco, arbeitete mit Samuel Beckett und mit Harold Pinter. Esslin war ein Theatermann. Er reiste um die Welt um neue Stücke und neue Autoren - auch einige wenige Autorinnen - zu finden und öffnete das Kleinod der britischen Nation, "National Theatre On The Air", für die Moderne.

Klaus Schöning, der jüngere, trieb, wenngleich einige Jahre später, den Prozess der Öffnung noch um ein gutes Stück weiter. Er verstand das Hörspiel nicht mehr als "Radiotheater", sondern als "akustische Kunst"; er löste es aus der Umklammerung der Dichter und Dramatiker und brachte neue Akteure ins Spiel: Sprachspieler/innen und Wortartist/innen, Soundkünstler/innen und Musiker/innen. Er verstand das Hörspiel schlicht als ein "Reservoir akustischer Darstellungsmuster, aus dem das Radio sich permanent bedient."

Diesseits des Absurden

Manche Geschichten sind, wie man so schön sagt, "bigger than life". Und in manchen Lebensgeschichten scheint mehr Platz vorhanden zu sein als in anderen. Martin Esslins Lebensgeschichte hätte für mehrere Biografien gereicht. In seinem Leben spiegelt sich das gesamte 20. Jahrhundert mit all seinen Katastrophen, er kannte Gott und die Welt, er sprach das gepflegte Deutsch der untergehenden Monarchie und war gleichzeitig Prophet der Moderne.

Martin Esslin, als Martin Pereszlenyi 1918 in Budapest geboren, kommt als Zweijähriger nach Wien. Und weil seine Tante das Theater und vor allem den großen Schauspieler Alexander Moissi so sehr liebt, beginnt er nach Abschluss der Mittelschule am Max-Reinhardt-Seminar Regie zu studieren. Nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich flieht er über Brüssel nach London und bewirbt sich, trickreich und sprachgewandt wie er ist, beim Monitoring Service, dem Abhördienst der BBC. Nach einer Zwischenstation beim BBC World Service landet der theaterbegeisterte, quirlige junge Mann schließlich in der Hörspielabteilung und wird 1963 als erster Ausländer deren Leiter.

So weitreichend seine Wirkung als Hörspielchef der BBC auch war, berühmt wurde Esslin 1961 durch sein Buch "Das Theater des Absurden", das in vielen Sprachen erschien und noch heute als Standardwerk gilt. Esslin, der in seinen späten Jahren oft in Wien zu Gast war und am Institut für Theaterwissenschaft Vorlesungen hielt, war ein phänomenaler Denker und ein begnadeter Erzähler. In seinem Witz erinnert er an Billy Wilder. Die Gespräche mit ihm, die das HÖRSPIEL-STUDIO an drei Dienstagabenden im Juli sendet, wurden, zwei Jahre vor seinem Tod, im April 2000 in Berlin und London aufgenommen.

Die vier Elemente in der akustischen Kunst

Auch Klaus Schöning, 1936 im ostpreußischen Rastenburg geboren, begann seine Karriere im Theater. Er arbeitet zunächst als Regieassistent und als Abendregisseur und geht mit der damaligen Berliner Schaubühne monatelang auf Tournee. 1961, des Reisens überdrüssig, geht Klaus Schöning zum Westdeutschen Rundfunk nach Köln. Das Radio, sagt er, hatte ihn schon als Kind fasziniert und er hoffte, der deutschen Literatur als Dramaturg und Regisseur "näher kommen" zu können. Auch in Deutschland war das Hörspiel damals nah am Theater gebaut. Der junge Mann arbeitet mit Heinrich Böll und mit Hans Magnus Enzensberger, er realisiert Projekte mit Günter Eich und Alfred Andersch.

Doch bald erkannte er, dass das Hörspielangebot nicht "identisch" war mit der "Breite der aktuellen Entwicklung anderer künstlerischer Möglichkeiten." Er verschaffte neuen, jüngeren Künstler/innen Zutritt in die Studios des WDR. Peter Handke und Urs Widmer betraten die Bühne, Ernst Jandl und Friederike Mayröcker, Wolf Wondratschek, Gerhard Rühm und Ror Wolf. 1968 fasste Klaus Schöning die Öffnung des Hörspiels hin zu einer eigenständigen Form, die sich zunehmend vom Theater emanzipierte, unter dem Schlagwort "Neues Hörspiel" zusammen. Ein Begriff, der als deutscher Exportartikel gilt und bis zum heutigen Tag auch im Englischen so verwendet wird.

Rote Behälter im Sand

(c) VAN DER VEEN

Doch damit nicht genug. Nach den Sprachspieler/innen und den experimentierfreudigen Dichter/innen der jüngeren Generation holte Klaus Schöning die Musiker/innen und die Soundkünstler/innen nach Köln. Er realisierte Projekte mit John Cage und mit Mauricio Kagel und machte 1991 schließlich aus dem von ihm aufgebauten HörSpielStudio im WDR das "Studio Akustische Kunst". Auch der Begriff der Regie schien dem umtriebigen und ewig rastlosen Radiorevolutionär in diesem Zusammenhang nicht mehr angemessen. "Soundscapes", sagt Klaus Schöning, kann man nicht "inszenieren", man kann sie nur "ermöglichen". Sich als "Regisseur" zu bezeichnen erschiene ihm daher anmaßend, er "realisiere" seine Projekte lieber.

Klaus Schöning, der zuletzt zwei Arbeiten von Friederike Mayröcker für den ORF "realisierte", ist nicht nur Radiomacher sondern auch Botschafter, Lehrer, Vermittler. Er publizierte eine Vielzahl von Beiträgen und Büchern, untermauerte seine Arbeiten theoretisch, hielt Vorlesungen, Seminare und Workshops in der ganzen Welt. Ab 1999, gegen Ende seiner Karriere, begann er die Kernelemente seiner Arbeit in einer vierteiligen Serie zusammenzufassen. Titel: "Die vier Elemente in der akustischen Kunst". Klaus Schöning dokumentiert darin die Klangwelt des Wasser, des Feuers, der Erde und der Luft und zitiert Kompositionen und akustische Arbeiten von John Cage und Gerhard Rühm, von Bill Fontana und Heiner Goebbels, von Jaques Offenbach, Luigi Nono und Igor Strawinski.

Auf die gebetsmühlenartig vorgebrachte Frage nach der "Krise des Hörspiels" in Zeiten des Fernsehens, des Internet und des sogenannten Hörbuch-Booms antwortet Klaus Schöning, ebenso gebildet und gelassen, mit einem lateinischen Spruch: Fluctuat et mergitur – sinngemäß: es fließt und wird nicht untergehen. Mit anderen Worten: Nur was sich ändert, hat Bestand. Das hätte vermutlich auch der kosmopolitische Martin Esslin so gesehen. "It floats and doesn’t sink".