Geert Mak sucht das "Land der unbegrenzten Möglichkeiten"
Amerika!
"Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten". Ist das ernst oder ironisch gemeint? Den Menschen in seinem Streben nach Glück nicht zu behindern, ist zwar in der Unabhängigkeitserklärung der USA von 1776 festgeschrieben, doch der mit diesem Dokument einhergehende Liberalismus hatte keineswegs unbegrenzte Freiheiten zur Folge.
8. April 2017, 21:58
Geert Mak, der kein ausgewiesener Ironiker ist, sondern ein ziemlich sorgfältig arbeitender Journalist, weiß natürlich, dass dieses Amerika, das er im Herbst 2010 zehn Wochen lang bereist, ein Land mit unglaublichen Beschränkungen im Inneren ist. Nie war das Land sozial so gespalten, nie war die Kluft zwischen Eliten und Unterprivilegierten so tief wie heute. Es ist aber auch ein Land, das sein Bedürfnis nach Reglementierung und Kontrolle nicht innerhalb der eigenen Grenzen austrägt, wie die aktuelle Debatte um den Zugriff auf private Daten zeigt. Ein Grund dafür ist dieser:
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Als der Kommunismus zusammenbrach, erwarteten die Vereinigten Staaten, die unangefochtene globale Supermacht zu werden. Stattdessen verloren sie sofort die Kontrolle über zahllose Länder und Bewegungen, die, von der Zucht des Kalten Krieges befreit, kopflos auseinanderstoben. Paradoxerweise hatte Amerika gerade während jenes Kalten Krieges den größten Teil der Welt beherrscht, meistens im gegenseitigen Einvernehmen, und es hatte gewusst, warum es herrschte. Nun ist diese Welt in tausend Scherben zersprungen, allesamt scharf, viele zerbrechlich, einige beängstigend gefährlich. Und Amerika weiß nicht mehr, welche Aufgabe es erfüllen soll.
Auf den Spuren John Steinbecks
Genau fünfzig Jahre nach John Steinbecks mit Auto und Hund unternommener Tour durch das Land wählt Geert Mak dieselbe Route. Steinbeck, der Schriftsteller und Nobelpreisträger, war 1960 gesundheitlich angeschlagen und als Literat schon lange über seinem Zenit, als er sich aufmachte, das Nachkriegswirtschaftswunder, die noch junge Supermacht, die scheinbar zwischen Konsum, Kirche und Kommunistenhass taumelnde Gesellschaft zu besichtigen und zu beschreiben.
In der Tat waren die USA der 1950er Jahre dem oft zitierten "american dream" so nahe wie nie zuvor und nie danach. Steinbeck fuhr durch ein Land, das gerade erst angekommen war in der vermeintlich göttlich abgesegneten Ideologie des Konsumismus, die im Gegensatz zum Kommunismus keiner staatlichen Lenkung bedurfte, sondern der auf Industrie, Medien und Werbewirtschaft ausgelagerten sanften Steuerung der Bedürfnisse.
Das verfassungsgarantierte Streben nach Glück wurde durch vorgefertigte Vorstellungen von Glück ersetzt, die ein großer Teil der Amerikaner käuflich erwerben konnte: ein Haus, ein Auto, Elektroartikel aller Art. Man musste sich das bisschen Luxus nicht vom Munde absparen, man musste nur einen Kredit aufnehmen, um durch die damit verbundene Kaufkraft zu einem glücklichen Individuum, zu einer glücklichen Familie, zu einem glücklichen Amerikaner werden.
Ein selbstbewusstes Land vor 50 Jahren
Noch 20 Jahre davor, zur Zeit der großen Depression, waren die USA ein über weite Strecken verarmtes Land gewesen, ein infrastrukturell unterentwickeltes Land, in dem Familien im besten Fall das Geld fürs Allernötigste aufbringen konnten. Erst Roosevelts New Deal, der Krieg und der Wirtschaftsaufschwung danach haben aus den USA eine Nation gemacht, die 1960, als John Steinbeck seine Reise unternahm, sich so selbstbewusst zu inszenieren verstand, dass man meinen konnte, nun sei tatsächlich das Ende der Geschichte erreicht, es gebe keine Entwicklung mehr zum Besseren. John Steinbeck aber äußert sich 1960 skeptisch:
John Steinbeck
Auf all meinen Reisen habe ich wenig wirkliche Armut gesehen, ich meine die niederdrückende, schreckliche Armut der dreißiger Jahre. Die war wenigstens real und greifbar. Nein, was ich gesehen habe, war eine Krankheit, eine Art verzehrender Schwäche. Es gab Wünsche, aber keine Bedürftigkeit. Und unterschwellig die drängende Energie, wie Gase in einem Leichnam. Wenn das einmal explodiert - ich zittere bei dem Gedanken an das Ergebnis.
Ein sich auflösender amerikanischer Traum
Es dauerte nicht lange, ehe der amerikanische Traum auch für Optimisten sichtbar sich aufzulösen begann. Das Desaster in Vietnam, Nixon und die korrupte politische Elite, der Abstieg der einst so mächtigen Autoindustrie, steigende Kriminalität, devastierte Städte - die USA waren plötzlich eine Anhäufung von Problemen.
Und jene, auf die der amerikanische Traum abgezielt hatte, die Mittelschicht nämlich, die Masse der Konsumenten, die sich gerade ans Konsumieren gewöhnt hatte, fiel allmählich zurück in die Zeit der brüchigen Verhältnisse. Und genau diese Verhältnisse beschreibt Geert Mak auf den Spuren von John Steinbeck. Dasselbe Land, dieselben Orte, sind nach einem halben Jahrhundert nicht wiederzuerkennen.
Im ehemaligen Fischerdorf Sag Harbor auf Long Island, wo Steinbeck unter Kleingewerbetreibenden lebte, kostet ein Haus von einer Million Dollar aufwärts. Die Vororte von New York, ehemals Eigenheimwüsten für die Mittelschicht, sind Ghettos. Detroit, die frühere Hauptstadt der Autoindustrie, ist pleite und über weite Teile entvölkert. Die Folgen der Finanzkrise und des schon länger anhaltenden wirtschaftlichen Abstiegs aufgrund der nach Asien ausgelagerten Industrieproduktion, sind allerorten sichtbar.
Eigenartige Mischung
Mitunter muten diese USA im Herbst 2010 an wie die USA in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts. Es ist eine für europäische Verhältnisse seltsam anmutende Mischung aus Depression und der hartnäckigen Überzeugung, dem Rest der Welt allen Schwierigkeiten zum Trotz überlegen zu sein.
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Es gibt ein immer wiederkehrendes Thema der amerikanischen Erzählung: der einfache Bursche, der Unrecht nicht hinnimmt, der die Bürokraten beseitigt, der das Gute fördert und das Böse vernichtet und der am Ende überall und für jeden Frieden und Freiheit bringt. Das Problem ist jedoch, dass mit Abstand die meisten Amerikaner – die Mitglieder des Kongresses eingeschlossen – noch nie einen Fuß über die amerikanische Grenze gesetzt haben und kaum wissen, was woanders in der Welt los ist. Das ist die Kehrseite des Exzeptionalismus: Wenn wir das beste Land der Welt sind, die von Gott besonders gesegnete Nation, dann können andere Länder nicht besser sein.
Vermeidliche und unvermeidliche Veränderungen
Geert Maks stimmungsvoller und faktenreicher Bericht einer Reise durch die USA ist keine Abrechnung mit der kranken Supermacht im Stil eines Michael Moore. Mak schildert aus distanziert-europäischer Perspektive Veränderungen, die sich innerhalb der vergangenen fünf Jahrzehnte vollzogen haben, vermeidliche und unvermeidliche Veränderungen, die mit verfehlter Politik ebenso zu tun haben wie mit globalen Machtverschiebungen.
Dass zuerst Japan, dann China zu Wirtschaftsgroßmächten aufsteigen, war in den 1950er Jahren nicht abzusehen. Dass es kein Grundrecht auf beständiges Wachstum gibt und die Sicherheit des Landes antastbar ist, war damals auch noch nicht klar. Geert Mak beobachtet und beschreibt ein Land des Staunens über die eigene Schwäche, dem aber nach jahrzehntelanger künstlicher und ungewöhnlicher Dominanz letztlich nichts weiter passiert, als auf Normalgröße zurechtgestutzt zu werden. Eine Befürchtung des Historikers Paul Kennedy aufnehmend fragt er sich,...
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...ob die Amerikaner eine solche Rückkehr zu normalen Verhältnissen akzeptieren können oder ob sie lieber denen glauben, die eine Verteidigung der künstlichen Vormachtstellung für möglich halten.
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Geert Mak, "Amerika! Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten", Siedler Verlag