Neues Leben in Kapolcs
In dem kleinen Ort am Bach Eger veranstaltet seit 1989 der Komponist und ehemalige Leiter des Neuen Theaters in Budapest, István Márta, ein Kulturfestival.
8. April 2017, 21:58
Bis vor zwei Jahren waren es mehrere Dörfer, die im nördlichen Hinterland das Balaton alljährlich an diesem Volksfest im Sommer teilnahmen. Seit einiger Zeit jedoch kämpfen die Organisatoren mit gekürzten Subventionen und wegen der wirtschaftlich schwierigen Lage Ungarns mit der nachlassenden Unterstützung durch Sponsoren. Dennoch schafft es István Márta immer wieder, Hunderte Musiker, Kunsthandwerker, Tänzer und Theaterleute in den Straßen und Höfen zu versammeln und mit Weltmusik, Folkloredarbietungen und Kunsthandwerk die beinahe schon ausgestorbenen Dörfer für zehn Tage lang zu neuem Leben zu erwecken.
Landflucht gestoppt
Viele Tausende Besucher flanieren durch das 390-Einwohner-Straßendorf Kapolcs und dennoch wirkt der Ort nicht überstrapaziert. Mit behelfsmäßigen Schildern werden die Autofahrer zu den vielen improvisierten Parkplätzen gelotst, die Besitzer der Grundstücke freuen sich über den satten Zuverdienst durch die Parkplatzgebühren.
Allerdings: Vielen der Häuser in der Umgebung von Kapolcs sieht man die schweren Zeiten an: manche Gehöfte stehen leer, ihre Dächer sind einsturzgefährdet, andere sind zwar bewohnt aber renovierungsbedürftig: Der Putz ist abgebröckelt, die Farbe verblichen.
Die Landflucht war lange Jahre das Hauptproblem in der Region, meint Ernö Barbari. Die Jungen haben die Dörfer verlassen und die Alten waren nicht mehr imstande, sie zu erhalten. Da kam das Projekt "Mûvészetek Völgye" - "Tal der Künste" - von István Márta gerade recht. Seit sich einmal im Jahr ganz Kapolcs und Umgebung in ein riesiges Festival-Gelände verwandelt, haben einige der angestammten Bewohner wieder Mut gefasst, in die alte Bausubstanz zu investieren. Den Anfang machte der Komponist und ehemalige Direktor des Neuen Theaters in Budapest, István Mártá, schon viel früher im Jahr 1984, als er - als "Zugereister" - einen fast verfallenen Bauernhof instand setzte.
Entstanden aus einer Bürgerinitiative
Die Initiative "Tal der Künste" ist eigentlich im Zuge einer Protest-Bewegung kurz nach der Wende entstanden, erzählt István Márta. Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es elf Mühlen am Bach Eger. Diese Mühlen wurden verstaatlicht und nach und nach eingestellt. Ein ganzer Wirtschaftszweig war zum Erliegen gekommen.
Im Jahr 1989 formierte sich unter István Márta eine Bürgerinitiative gegen ein Projekt, welches die Austrocknung des Baches Eger zur Folge gehabt hätte. Das ganze ökologische Gleichgewicht des Ortes wäre aus dem Lot geraten – und dagegen wehrte man sich. Die Bürger gründeten einen Verein für Kultur und Naturschutz. In den langen Sitzungen und Gesprächen über ökologische Fragen kam man zu dem Schluss, auch der Kultur Rechnung zu tragen, und organisierte ein dreitägiges Kulturfest mit einigen Ausstellungen und einem Kirchenkonzert.
Geplant war ein einmaliges Fest für Freunde und Verwandte – etwa 300 Besucher kamen nach Kapolcs. Im Jahr darauf wünschten die Bewohner des Dorfes eine Neuauflage des Festivals – und nach und nach beteiligten sich die umliegenden Dörfer. Tatsächlich hat das Festival dazu beigetragen, dass die Dörfer Kapolcs, Taliandörögd, Monostorapáti und Vigántpetend nicht ausstarben und die Landflucht ins Stocken geriet.
Künstler/innen und ihre Werke
In Kapolcs haben sich zwischen die bröckelnden Fassaden schon etliche renovierte gemischt, in den Innenhöfe sind die unterschiedlichsten Ausstellungen von Kunsthandwerk zu sehen: Keramikschalen und Teller, wundersame Reliefs, bunte Hühner und Fantasievögel aus Ton. Eine der jungen Tonkünstlerinnen zeigt in der ehemaligen Fazekas Mühely, in der heute eine Galerie untergebracht ist, einer Gruppe von Kindern die Handhabung der Töpferscheibe. Mit feierlichem Ernst sitzen die Kleinen an der Maschine, den Ton bis über die Ellbogen verteilt und formen viele kleine Schalen und Töpfe.
István Márta lässt es sich nicht nehmen, per Elektromobil, das üblicherweise auf Golfplätzen zum Einsatz kommt, zu einer Besichtigungstour des Geländes einzuladen. In einer alten Scheune stellt eine Künstlerkooperative ihre Werke aus Metall, Holz, Stoff und Porzellan aus, im angrenzenden Hof verkaufen Frauen biologische Tees und selbstgemachte Marmeladen.
Eine Schmiedewerksatt hat – initiiert durch die Aktivitäten im Tal der Künste – auch wieder den Betrieb aufgenommen. Die teilweise vor Publikum hergestellten Produkte – schöne Feuerschalen, Kerzenleuchter, Türschilder und Laternen - können auch an Ort und Stelle gekauft werden. Bis vor kurzem gab es keinen Schmied mehr in der Region, seit einiger Zeit sieht Ferenc Nemeth wieder eine Chance für sein Handwerk. István Márta ist sichtlich stolz auf die Nachhaltigkeit dieses Dorf-Belebungsprojekts durch Kultur.
Begegnung der Generationen
In dem weißgekalkten Haus, in dem sich das kleine Volkskundemuseum befindet, sitzt eine ältere Dame mit einigen Buben an einem Tisch mit mehreren Schachbrettern. Auch das ist etwas, was sich durch das Tal der Künste entwickelt hat: die Begegnung der unterschiedlichen Generationen.
Jung und Alt sind auch bei anderen Gelegenheiten gemeinsam anzutreffen, nicht nur im provisorischen Spielepavillon oder beim Büchermarkt. Auch bei den diversen kulinarischen Ständen mit ungarischen Spezialitäten hilft man sich gegenseitig aus: eine angenehm gelassene, fröhliche Stimmung ist spürbar.
Die Fest-Besucher sitzen entweder auf einfachen Holzbänken oder auf Decken in der Wiese, genießen den Sommer und eine gewisse Trägheit. Sie flanieren von Konzert zu Konzert, kehren in den unterschiedlichen Höfen ein, besuchen Ausstellungen – Hektik ist in diesen Tagen ein Fremdwort. Ein Gefühl von großen Sommerferien taucht für kurze Zeit auf.
Konzerte in den Höfen
Dann wartet István Márta mit etwas Statistik auf: Im Tal der Künste finden rund 500 unterschiedliche Programme unter der Beteiligung von etwa 700 Künstlern statt, an 29 Spielstätten, wobei besonders die Höfe eine wichtige Rolle spielen. Der sogenannten "Palya Udvar" zum Beispiel: Hier hat die Musikerin Bea Palya, ihre Zelte aufgeschlagen und belebt zehn Tage lang den Hof mit Konzerten, Workshops und Sessions.
In einem anderen Hof, ein paar Häuser weiter im "Kálako-Vers-udvar", im Hof der Gedichte, setzt sich das Ensemble Kálako mit der Vertonung von Literatur auseinander. An einem idyllischen Platz unter Bäumen ist die kleine Bühne aufgebaut, auf der namhafte Schriftsteller des Landes wie Peter Esterhazy oder Várady Szabolcs aus ihren Werken lesen und die Musiker ihre von der Literatur inspirierten Kompositionen dazu spielen.
Veränderte politische Lage
Im Jahr 2012 haben rund 120.000 Besucher das Tal aufgesucht, berichtet István Márta, das bedeutet für die einzelnen Dörfer Einnahmen, die sie ohne das Festival nicht lukrieren könnten.
Das beste Jahr allerdings war 2007, meint der Festivalleiter. Damals verzeichnete man an zehn Tagen 260.000 Besucher und rund 3.600 Künstler bei Veranstaltungen in sieben Dörfern. Inzwischen habe sich vieles in Ungarn verändert, auch die politische Lage des Landes.
István Márta hat selbst die härtere Gangart in der aktuellen ungarischen Politik zu spüren bekommen, als er im Jahr 2011 vom Budapester Oberbürgermeister István Tarlós gegen die Stimmen des Berufungskomitees als Theaterdirektor des Új Színház, des neuen Theaters von Budapest, abgesetzt wurde. Daher versucht er das Tal der Künste frei von Politik zu halten, denn die, meint er, polarisiert die Gesellschaft. Politiker können gern als Besucher zum Festival kommen, ihr politisches Gepäck mögen sie allerdings am Dorfrand abstellen, meint István Márta. Hier bekommen sie kein Mikrophon und keine Bühne.
Spezialitäten der Region
Die Bühne und das Mikrofon bietet er lieber Musikern und Musikerinnen aus den unterschiedlichsten Bereichen an, einer Roma-Gruppe aus dem ukrainischen Teil der Karpaten zum Beispiel. Die dreiköpfige Combo spielt für die Gäste auf, die sich im Hof der ehemaligen Falumalom-Mühle mit Szegediner-Gulasch und anschließend mit Kürtöskalács, einer süßen Blätterteig-Spezialität aus Székely, stärken.
Leider sind Theater-Produktionen in letzter Zeit etwas zu kurz gekommen, meint István Márta, dafür fehlte in letzter Zeit das Geld. Viele Künstlerinnen und Künstler kommen dem Organisationsteam ohnehin mit ihren Gagen sehr entgegen – ohne diese Solidarität wäre ein Fortbestand nur schwer möglich. István Márta ist sich bewusst, dass er jedes Jahr einen harten Kampf auf sich nehmen muss, um das Kultur-Festival durchführen zu können. Es ist nicht leicht, die Finanzierung in Zeiten zu sichern, in welchen um die Freiheit der Presse, aber auch um die Unabhängigkeit der Kunst gekämpft werden muss. Denn das Tal der Künste, so Márta, muss künstlerisch unabhängig bleiben.
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