Das Wesen der Sprache

Die größte Erfindung der Menschheit

Der Linguist Daniel Everett beschäftigt sich mit den Einwohnern des Amazonasbecken, ihren Sprachen und Gebräuchen seit 1977. Acht Jahre davon lebte er bei den Piraha.

Ursprünglich kam er mit seiner Familie als Missionar und Mitglied der Wycliffe-Bibelübersetzer in das Amazonasbecken. Diese Organisation hatte sich zum Ziel gesetzt, die Bibel in alle Sprachen der Welt zu übersetzen. Daniel Everett musste sich also zwangsläufig mit der Sprache der Piraha auseinandersetzen.

Schrift zur Sprache entwickelt

Sein linguistisches Interesse triumphierte bald über seinen missionarischen Eifer. Zumal die Piraha nicht das geringste Interesse am Wort Gottes zeigten. Und auch ein anderer Versuch, den Amazonasbewohnern die Früchte der Zivilisation zukommen zu lassen, scheiterte. Daniel Everett entwickelte eine Schrift der Sprache.

"Sie sagten anfangs, sie wollten Papier und Bleistift so verwenden wie die Brasilianer und die Amerikaner", erzählt Everett. "Ich sagte, OK. Ich hielt dann jeden Abend eine Klasse. Nach ein paar Monaten schrieb ich ein Wort auf die Tafel und fragt sie, was es bedeutete. "Miggi" sagten alle und begannen zu lachen. Ich fragte, was so lustig sei und sie sagten: Das klinge genauso wie das Piraha-Wort für "Boden". Und ich sagte, ja richtig, das ist das Wort für Boden. Dann sagten sie: Also, nein, wir wollen unsere Sprache nicht schreiben. Ist es das, was du hier machst? Nein, das wollen wir nicht. – Das war das Ende der Klasse."

Herrschendes Dogma infrage gestellt

Doch Daniel Everetts Buch "Die größte Erfindung der Menschheit" ist keine bloße Anekdotensammlung über die Begegnungen mit den Piraha. Die Auseinandersetzung mit deren Sprache war für den Autor der Anreiz vom Missionarsdasein in die Linguistik zu wechseln. Seine Beobachtungen und Einsichten in die Sprache, die so isoliert und einzigartig ist wie beispielsweise Baskisch, führten schließlich dazu, dass er das herrschende linguistische Dogma in Frage stellte. Dieses besagt im Kern, Grammatik sei universell, also gewissermaßen biologisch angelegt.

Diese These stammt von den Maestros der linguistischen Forschung. Noam Chomsky stellte sie in den 1960er Jahren auf, und Steven Pinker unterstützte sie. Dass es so viele verschiedene Sprachen mit vielen verschiedenen Strukturen gibt, spreche keinswegs gegen diese These, meinen ihre Verfechter. Sprachen seien bloß bunte Variationen zum Grundthema - nämlich der universellen Grammatik, die Menschen eben angeboren ist.

"Pizza ist auch fast universell. Aber deshalb käme niemand auf die Idee zu sagen, Pizza sei angeboren", sagt Everett. "Pfeil und Bogen sind auch universell. Und wir bezeichnen sie auch nicht als angeboren. Menschen müssen viele Dinge tun, um zu überleben und ihre Probleme zu lösen. Sprache ist eine wichtige Lösung für das Problem der Kommunikation. Sprache erscheint zwar sehr kompliziert, doch wenn man sie genauer betrachtet und in ihre Grundelemente zerlegt, ist sie recht einfach strukturiert. Man muss nur Worte in einer bestimmten Reihenfolge sagen. Und wenn sie eine ähnliche Bedeutung haben, kann man sie in Gruppen zusammenfassen." Und dazu, so der Linguist, braucht es keine Gene.

Jede Sprache ist lernbar

In seinem Buch geht Daniel Everett ausführlich auf die linguistischen Theorien sowie auch auf die Erkenntnisse der Genetik ein. Er glaubt: Was man über Genetik weiß, stütze eher sein Argument, dass Sprache eben nicht biologisch angelegt sei.

"Wir wissen, dass Gene mutierten und dass kultureller Druck zur Entwicklung neuer Eigenschaften führen kann", so Everett. "Also zum Beispiel: Die Fähigkeit, Milch zu verdauen, ist in Gesellschaften, wo es viele Rinder gibt, weit verbreitet. Dieses Gen hat sich vor etwa 7.500 Jahren herausgebildet und ist eine Reaktion auf den Druck der Umwelt. Das ist nur eines von vielen solchen Beispielen. Wenn also Gene mutieren und wenn Gene tatsächlich für Sprache zuständig wären, dann muss man annehmen, dass nicht alle Menschen die gleichen Sprachen lernen können. Es würde bestimmte Gruppen geben, die Sprachen mit bestimmten Eigenheiten erlernen können, andere nicht. Aber: Wenn die Sprache nicht in den Genen verankert ist, sondern eine allgemeine, kulturelle Lösung für menschliche Probleme darstellt, wenn Menschen Intelligenz anwenden müssen, dann können alle Menschen alle Sprachen lernen."

Keine Zahlwörter

Die Fähigkeit, eine Vielzahl von differenzierten Lauten von sich zu geben, ist freilich biologisch angelegt. Doch Grammatik gewiss nicht, meint Daniel Everett. Die Sprache ist für ihn eines von vielen kulturellen Werkzeugen und entspricht immer den jeweiligen Bedürfnissen jener, die sie sprechen. Die Piraha haben beispielsweise kein Wort für "rechts" oder "links" und auch nur wenige Ausdrücke für Farben. Ihre Syntax kommt ohne Nebensätze aus. Und auch ohne Zahlen, schreibt Daniel Everett.

Wörterbuch im Internet

Auf ganz festen Beinen stehen Daniel Everetts Thesen, die auf seine Auseinandersetzung mit Piraha basieren, freilich nicht. Denn bisher ist er der einzige, der die Sprache so eingehend studiert hat. Wörterbücher und Übersetzungen stammen alle ausschließlich von ihm. Doch das solle sich ändern, meint der Autor:

"Ich arbeite mit Kollegen am Massachussetts Institute of Technology, der University of Rochester und dem Wellesley College zusammen. Wir gehen die Texte und Geschichten, die mir die Piraha erzählt haben und die ich über die Jahre transkribiert habe, durch. Wir suchen nach grammatikalischen Mustern, um meine These, dass die Piraha-Grammatik einzigartig ist, zu untermauern."

Außerdem möchte Daniel Everett alle seine gesammelten Daten und Interpretationen der letzten 30 Jahre ins Internet stellen. Jede/r solle Zugang haben und seine Ergebnisse nachprüfen können.

Service

Daniel Everett, "Die größte Erfindung der Menschheit. Was mich meine Jahre am Amazonas über das Wesen der Sprache gelehrt haben", aus dem Englischen übersetzt von Harald Stadler, DVA