Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen

Normal

Der US-amerikanische Psychiater Allen Frances befürchtet, dass alltägliche Probleme und zum Leben gehörende Seelenzustände als geistige Krankheitszustände kategorisiert werden.

Ein rebellisches, junges Mädchen steckt mitten im Gefühlschaos der Pubertät. Sie trinkt, nimmt Drogen und schwänzt die Schule. Ihr Verhalten ist zunehmend unberechenbar und selbstzerstörerisch. Sie wird irrtümlich als "schizophren" diagnostiziert und landet für zwei Jahre in der geschlossenen Psychiatrie

Dieser Fall ereignete sich in den 1960er Jahren in den USA. An der "Überdiagnostizierung" und der darauf folgenden, schädlichen Behandlung war unter anderem ein junger Arzt beteiligt, der seinen Fehler zu spät erkannte.

Den jungen Arzt bezeichnet die New York Times mittlerweile als "einflussreichsten Psychiater Amerikas". Es handelt sich um den Autor Allen Frances. In seinem Buch "Normal. Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen" finden sich zahlreiche solcher Fallbeispiele, viele aus seinem eigenen Berufsleben.

Frances zeigt darin, dass auch psychiatrische Diagnosen Moden und Konjunkturen unterliegen. Gegenwärtig scheinen die Jüngsten unserer Gesellschaft im Fokus der Psychiatrie zu stehen.

Was in den 1960er Jahren die Schizophrenie war, ist heute das "Aufmerksamkeits-Hyperaktivitäts-Defizit-Syndrom", kurz ADHS. Ebenfalls beliebte Diagnosen: Autismus oder bipolare Störungen, wo sich depressive und manische Episoden abwechseln. Bei immer mehr Kindern werden diese psychischen Normabweichungen diagnostiziert, oft verbunden mit der Einnahme von Psychopharmaka.

Dafür mitverantwortlich ist nach Einschätzung des Psychiaters Allen Frances unter anderem die 4. Ausgabe des "Diagnostischen und Statistischen Handbuchs Psychischer Störungen". Er selbst leitete damals die Überarbeitung des DSM-IV.

Es ist offensichtlich, dass sich Allen Frances Buch nicht nur gegen die Standardisierung von seelischen Leiden richtet, sondern vor allem gegen die Pharmaindustrie. Es ist bekannt, dass die Pharmakonzerne weit mehr Geld in Werbung als in die Forschung investieren. Eine großzügig finanzierte Kampagne für mehr "Krankheitsbewusstsein" kann demnach eine Diagnoseflut heraufbeschwören, wo es davor keine Erkrankungen gegeben hat.

Fast die Hälfte der US-Amerikaner hat heute die Diagnose einer lebenslangen psychischen Störung. Europa holt mit mehr als 40 Prozent rasch auf. Angststörungen, soziale Phobien und vor allem Depressionen werden immer öfter diagnostiziert, oft auch vom Hausarzt. Wenn sich die Ärzte in Zukunft nach der 5. Auflage des DSM richten, dann wird die Anzahl der Depressions-Diagnosen wohl noch weiter ansteigen.

Als Beispiel führt Allen Frances die Trauer nach dem Verlust eines nahen Angehörigen an. 1980 hielt man einen Menschen für normal, wenn er ein Jahr lang trauerte. 1994, im Handbuch DSM-IV, empfahl man Psychiatern zwei Monate Trauerzeit abzuwarten, bevor man Schlaf- und Appetitlosigkeit, Apathie und Konzentrationsstörungen als Depression einstufte. Mittlerweile ist diese Frist auf wenige Wochen geschrumpft.

Das Diagnose Handbuch DSM-V ist für große Teile Europas bzw. Österreichs nur indirekt relevant. Hierzulande kommt ein anderes Diagnosewerkzeug zum Einsatz, das sogenannte ICD, herausgegeben von der Weltgesundheitsorganisation der Vereinten Nationen. Doch die Wechselwirkung zwischen den beiden Standardwerken ist nach Meinung von Allen Frances offensichtlich.

Seine mehr als 400 Seite starke Kampfschrift mit dem Titel „Normal“ richtet sich vor allem an die Konsumenten und Patienten, die er dazu anhält, nicht selbst zu diagnostizieren, sich zu informieren und im Zweifelsfall eine zweite Diagnose einzuholen. Und sie richtet sich an seine Kollegen, die er dazu auffordert, die wirklich Betroffenen im Diagnosewahn nicht zu übersehen.

Für den Zeitpunkt der Veröffentlichung von "Normal" wurde Allen Frances auch kritisiert. Just in dem Moment, wo seine Tantiemen an der vierten Ausgabe des DSM versiegen werden und er als pensionierter Wissenschaftler nicht länger auf Unterstützung der Pharmakonzerne angewiesen ist, erscheint dieser psychiatrische Rundumschlag. Trotz dieses Umstandes hat Frances ein lesenswertes Buch verfasst: ein Plädoyer für die vielen Facetten der Normalität.

Service

Allen Frances, "Normal", DuMont Verlag