Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen
Normal
Der US-amerikanische Psychiater Allen Frances befürchtet, dass alltägliche Probleme und zum Leben gehörende Seelenzustände als geistige Krankheitszustände kategorisiert werden.
8. April 2017, 21:58
Ein rebellisches, junges Mädchen steckt mitten im Gefühlschaos der Pubertät. Sie trinkt, nimmt Drogen und schwänzt die Schule. Ihr Verhalten ist zunehmend unberechenbar und selbstzerstörerisch. Sie wird irrtümlich als "schizophren" diagnostiziert und landet für zwei Jahre in der geschlossenen Psychiatrie
Dieser Fall ereignete sich in den 1960er Jahren in den USA. An der "Überdiagnostizierung" und der darauf folgenden, schädlichen Behandlung war unter anderem ein junger Arzt beteiligt, der seinen Fehler zu spät erkannte.
Den jungen Arzt bezeichnet die New York Times mittlerweile als "einflussreichsten Psychiater Amerikas". Es handelt sich um den Autor Allen Frances. In seinem Buch "Normal. Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen" finden sich zahlreiche solcher Fallbeispiele, viele aus seinem eigenen Berufsleben.
Frances zeigt darin, dass auch psychiatrische Diagnosen Moden und Konjunkturen unterliegen. Gegenwärtig scheinen die Jüngsten unserer Gesellschaft im Fokus der Psychiatrie zu stehen.
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Wer nicht den Zustand vollkommenen Glücks erreicht, wer kein sorgenfreies Leben führt, gerät leicht in den Verdacht einer psychischen Störung. Unsere Ziele sind zu hoch gesteckt und unsere Erwartungen unrealistisch – vor allem in Bezug auf unsere Kinder.
Was in den 1960er Jahren die Schizophrenie war, ist heute das "Aufmerksamkeits-Hyperaktivitäts-Defizit-Syndrom", kurz ADHS. Ebenfalls beliebte Diagnosen: Autismus oder bipolare Störungen, wo sich depressive und manische Episoden abwechseln. Bei immer mehr Kindern werden diese psychischen Normabweichungen diagnostiziert, oft verbunden mit der Einnahme von Psychopharmaka.
Dafür mitverantwortlich ist nach Einschätzung des Psychiaters Allen Frances unter anderem die 4. Ausgabe des "Diagnostischen und Statistischen Handbuchs Psychischer Störungen". Er selbst leitete damals die Überarbeitung des DSM-IV.
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Das mit aller Sorgfalt erstellte Aufmerksamkeitsdefizit im DSM-IV ging davon aus, dass unsere vorgeschlagenen Änderungen zu einer lediglich 15-prozentigen Zunahme der Fälle führen würden. … Den jähen Umschwung, der 1997 eintrat, als Pharmaunternehmen neue, teure Medikamente gegen ADHS auf den Markt brachten und gleichzeitig die Erlaubnis erhielten, direkt bei Eltern und Lehrern dafür zu werben, konnte niemand vorhersehen. Bald wurde ADHS als Diagnose verkauft und war allgegenwärtig in Zeitschriften, im Fernsehen und in den Sprechzimmern der Kinderärzte - eine unerwartete Epidemie war ausgebrochen, und die Zahl der Fälle stieg auf das Dreifache.
Es ist offensichtlich, dass sich Allen Frances Buch nicht nur gegen die Standardisierung von seelischen Leiden richtet, sondern vor allem gegen die Pharmaindustrie. Es ist bekannt, dass die Pharmakonzerne weit mehr Geld in Werbung als in die Forschung investieren. Eine großzügig finanzierte Kampagne für mehr "Krankheitsbewusstsein" kann demnach eine Diagnoseflut heraufbeschwören, wo es davor keine Erkrankungen gegeben hat.
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Jedes Unternehmen ist zuallererst dem eigenen Fortbestand verpflichtet, nicht dem Gemeinwohl. General Motors verkauft Autos, ... Apple verkauft Computer, die Drogenkartelle verkaufen Kokain, und die Pharmakonzerne verkaufen Tabletten - und alle tun es mit demselben Ziel, nämlich so viel Gewinn wie möglich zu machen. … Mit ihrer hochentwickelten Fähigkeit, den Absatz zu steuern und das Preismonopol aufrechtzuhalten, sind die Pharmaunternehmen geradezu exemplarische Gewinnmaximierer, und der Schlüssel zu ihrem Erfolg ist die diagnostische Inflation.
Fast die Hälfte der US-Amerikaner hat heute die Diagnose einer lebenslangen psychischen Störung. Europa holt mit mehr als 40 Prozent rasch auf. Angststörungen, soziale Phobien und vor allem Depressionen werden immer öfter diagnostiziert, oft auch vom Hausarzt. Wenn sich die Ärzte in Zukunft nach der 5. Auflage des DSM richten, dann wird die Anzahl der Depressions-Diagnosen wohl noch weiter ansteigen.
Als Beispiel führt Allen Frances die Trauer nach dem Verlust eines nahen Angehörigen an. 1980 hielt man einen Menschen für normal, wenn er ein Jahr lang trauerte. 1994, im Handbuch DSM-IV, empfahl man Psychiatern zwei Monate Trauerzeit abzuwarten, bevor man Schlaf- und Appetitlosigkeit, Apathie und Konzentrationsstörungen als Depression einstufte. Mittlerweile ist diese Frist auf wenige Wochen geschrumpft.
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Traurigkeit darf nicht mit Krankheit gleichgesetzt werden. Es gibt keine Diagnose für jede Enttäuschung und keine Pille für jedes Problem. Die Schwierigkeiten des Lebens - Scheidung, Krankheit, Verlust des Arbeitsplatzes, finanzielle Probleme, zwischenmenschliche Konflikte - können nicht per Gesetz abgeschafft werden. Und unsere natürliche Reaktion darauf, wie Trauer, Unzufriedenheit und Mutlosigkeit, sollte nicht als psychische Störung pathologisiert und mit Tabletten bekämpft werden.… Wer Traurigkeit nicht aushalten kann, erlebt auch keine Freude.
Das Diagnose Handbuch DSM-V ist für große Teile Europas bzw. Österreichs nur indirekt relevant. Hierzulande kommt ein anderes Diagnosewerkzeug zum Einsatz, das sogenannte ICD, herausgegeben von der Weltgesundheitsorganisation der Vereinten Nationen. Doch die Wechselwirkung zwischen den beiden Standardwerken ist nach Meinung von Allen Frances offensichtlich.
Seine mehr als 400 Seite starke Kampfschrift mit dem Titel „Normal“ richtet sich vor allem an die Konsumenten und Patienten, die er dazu anhält, nicht selbst zu diagnostizieren, sich zu informieren und im Zweifelsfall eine zweite Diagnose einzuholen. Und sie richtet sich an seine Kollegen, die er dazu auffordert, die wirklich Betroffenen im Diagnosewahn nicht zu übersehen.
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… die Psychiatrie muss innerhalb ihrer Zuständigkeit bleiben und das tun, was sie am besten kann: den Menschen helfen, die unsere Unterstützung wirklich brauchen und am meisten davon profitieren. Wir dürfen aus Menschen, die im Grunde normal und gesund sind, keine Patienten machen und dabei die wirklich Kranken ignorieren.
Für den Zeitpunkt der Veröffentlichung von "Normal" wurde Allen Frances auch kritisiert. Just in dem Moment, wo seine Tantiemen an der vierten Ausgabe des DSM versiegen werden und er als pensionierter Wissenschaftler nicht länger auf Unterstützung der Pharmakonzerne angewiesen ist, erscheint dieser psychiatrische Rundumschlag. Trotz dieses Umstandes hat Frances ein lesenswertes Buch verfasst: ein Plädoyer für die vielen Facetten der Normalität.
Service
Allen Frances, "Normal", DuMont Verlag