Russland im Epochenjahr 1913

Der große Bruch

Profund wie knapp skizziert Ingold Gesellschaft und Politik des im Umbruch befindlichen 175-Millionen-Reiches des russischen Imperators, dessen Haus Romanow gerade den 300. Geburtstag feierte.

Der Fall Beilis

Der "russische Skandal" des Jahres 1913 ist der Fall Beilis. Im März 1911 war in Kiew ein Knabe namens Andrej Juschinskij ermordet worden. Unter dem Einfluss der "Schwarzhundertschaften", reaktionärster, dem Zaren nahe stehender Kreise, wurde das Verfahren gegen Mendel Beilis, den jüdischen Aufseher in einer Ziegelfabrik, in einen "Ritualmordprozess" verwandelt.

Mitglieder der sogenannten "Sekte" der Chassiden, der Beilis angeblich angehörte, hätten das Christenkind ermordet, weil sie dessen Blut für ihre Riten benötigten. Weltweite Proteste folgten und wurden unter anderem von Thomas Mann, H. G. Wells und Anatole France unterzeichnet. Der Gerechtigkeit halber sei hinzugefügt: auch die russische Intelligenzija trat lautstark gegen die obskurantistische Farce auf, und letztlich unterstützte selbst der Zar den Freispruch für Beilis.

Dies ist eine der unzähligen Mikroepisoden, die der Schweizer Slawist und Schriftsteller Felix Phillip Ingold in seiner monumentalen Studie "Der Große Bruch" erzählt, um die Atmosphäre Russlands im Epochenjahr 1913 lebendig werden zu lassen.

Wirtschaftlich im Aufschwung

Seit der niedergeschlagenen Revolution von 1905 war das größte Land der Welt, dessen Bevölkerung zu 80 Prozent aus Bauern bestand, in Bewegung geraten: die politische Formel der Herrscher lautetet "Orthodoxie, Selbstherrschaft und Volkstum", aber es gab mit der Duma immerhin auch eine Art Parlament.

Auf der Tagesordnung standen Terroranschläge und Streiks. Dreieinhalb Millionen Menschen zogen 1913 als Kolonisten nach Sibirien und Mittelasien. Jossif Stalin, damals noch eher ein unbedeutendes Mitglied des Zentralkomitees der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands, protestierte lautstark, als im sibirischen Jakutsk zweihundert demonstrierende Goldwäscher von der Polizei erschossen wurden: "Nieder mit der Monarchie der Romanows! Es lebe die neue Revolution! Es lebe die demokratische Republik! Ruhm und Ehre den gefallenen Kämpfern!"

Gesamtwirtschaftlich gesehen war Russland im Aufschwung begriffen: Mit der Erdölproduktion in Baku befand es sich an weltweit zweiter Stelle; Russland als "Kornkammer Europas" war sprichwörtlich. Die fünftgrößte Industriemacht der Welt war dabei von technizistischen Phantasien und Utopien geradezu besessen.

Der Raumfahrtpionier Ziolkowski schrieb eine Erzählung mit dem bezeichnenden Titel "Schwerelos". Natürlich war auch der Zar anwesend, als der Konstrukteur Igor Sikorski (der spätere Erfinder des Hubschraubers) erstmals sein Großraumflugzeug, die "Ilja Murometz", steuerte; der Flugakrobat Nesterow zog 1000 Meter über Kiew eine "Todesschleife". Und Dichter wie Maler begeisterten sich für die Errungenschaften. Kazimir Malewitsch lithographierte absolut modern ein Fluggerät über einem dahinbrausenden Zug, selbst ein symbolistischer Lyriker wie Alexander Block dichtete nicht mehr über Rosendüfte und unbekannte Damen sondern über den "Aviatiker":

Und das Tier mit den verstummten Luftschrauben
Blieb hängen in furchterregender Schräge (...)
Such du mit ausgeblühten Augen
In der Luft einen Halt (...) in der Leere!

Umfassender Wandel

Nicht Leere, sondern Überschwang und Überfülle vor allem in Sachen Kunst und Kultur zeichnete Russland im Jahr 1913 aus. Bedeutende Messestandorte wie Nischnij Nowogorod, Hafenstädte wie Riga oder Odessa wurden mit protzigster Jugendstil-Architektur geradezu vollgepflastert. Moskauer Kaufleute wie Schtschukin oder Morosow kauften massenhaft Impressionisten und begeisterten sich für Picasso und Matisse, deren weltweit erste Sammler sie waren.

In der Auseinandersetzung mit den Neuerungen aus dem Westen und auf der Suche nach den eigen Wurzeln und Quellen entstand in der russischen Kunst das Absolute und ganz Neue. Alles war anders! Ein Komponist wie Igor Strawinsky beschäftigte sich mit Volksmusik, ein Wassili Kandinsky befasste sich mit sibirischem Schamanismus als Quelle der Abstraktion.

Für Felix Philipp Ingold ist der Wandel, der sich bei den russischen Suprematisten, Kubofuturisten oder Primitivisten vollzieht, nicht umfassend genug anzusetzen!

Es handelte sich um Neuerungen, die weit über die Grenzen des Landes hinaus Geltung besaßen. Die "Erweckung des Wortes", die am Theater wie in der Literatur von einem Aleksej Krutschonych oder einem Welimir Chlebnikow gepredigt wurde, musste dabei erst einmal das Alte beiseite räumen. Tschechow? Weg mit der Dekadenz von gutbürgerlichen sommerlichen Datschenbesuchern! In einem Manifest mit dem bezeichnenden Titel "Eine Ohrfeige für den öffentlichen Geschmack" hieß es: "Nur wir sind das Gesicht unserer Zeit. Das Horn der Zeit röhrt durch uns in der Wortkunst. Runter mit Puschkin, Dostojewskij, Tolstoj und ihresgleichen vom Dampfer der Gegenwart."

Einflussreiche Kunst

Krutschonych und Chlebnikow verfassten gemeinsam mit Wladimir Majakowskij die futuristische Oper "Der Siege über die Sonne". Dabei wurde auf der Bühne martialisch und prophetisch mit Messern und Maschinengewehren herumgefuchtelt. Die Welt musste untergehen, auf dass der Futurismus lebte. Kostüme und Bühnenbild der am 3. Dezember 1913 in Petersburg uraufgeführten Oper stammten von Kazimir Malewitsch, der dabei erstmals das schwarze Quadrat als Emblem seiner "suprematistischen" Revolution verwandte. Malewitsch sollte in der Folge nietzscheanisch dilletierend – und bis heute einflussreich – den Suprematismus herbeistammeln: "Ich bin der Ursprung von allem, denn in meinem Bewusstsein werden Welten geschaffen. Ich suche Gott, ich suche in mir mich selbst. Ich stelle mir eine Welt unerschöpflicher, unsichtbarer Formen vor; aus mir Unsichtbarem entsteht die unendliche Welt."

Es waren Dutzende von für die Kunst des 20. Jahrhunderts grundlegenden Werken und Strömungen, die um 1913 in Russland entstehen: Nur einigen seien genannt: Ossip Mandelstam veröffentlichte seine Gedichtsammlung "Der Stein", Alexander Skrijabin komponierte eine von Esoterik erfüllte "Schwarze Messe", der Impressario Sergej Diageljew schließlich landete mit "Le Sacre du printemps" und seinem Ballet Russe in Paris den Skandal der Saison! Und Andrej Belys Terroristenroman "Petersburg" sah schon Europas Apokalpyse, den Untergang in einem "Meer von Blut" heraufziehen!

Ausblick auf die Zukunft

Anders als die derzeit massenhaft erscheinenden Copy-Paste-Bücher über das Jahr 1913 stellt Felix Phillip Ingolds "Der Große Bruch" mit zahllosen Manifesten, Dokumenten und Auszügen aus Tagebüchern von Zeitgenossen nicht nur eine tiefschürfende und imposante Darstellung dieses russischen Wendejahres der neueren Geschichte dar, Ingold wagt auch einen Ausblick auf die tragische Zukunft der damaligen Avantgardisten: Als die russischen Revolutionäre der Kunst wenige Jahre später, nach der Oktoberrevolution, zu Künstlern der Revolution ernannt wurden, besiegelten sie auch ihren eigene Untergang. Der totale künstlerische Weltentwurf wurde vom Totalitarismus der Politik des neuen Menschen zermalmt. Trotz aller Beschwörung der diversen Welten "von gestern" wartet das Erbe der Russen des Jahres 1913 noch immer auf Wiederentdeckung!

Service

Felix Philipp Ingold, "Der große Bruch – Russland im Epochenjahr 1913", Matthes & Seitz