... oder Die Jagd nach der Million
Das Goldene Kalb...
Das Autorenduo Ilja Ilf und Jewgeni Petrow hat 1931 einen satirischen Roman über einen Kleinkriminellen veröffentlich, der in der Sowjetunion zum Millionär wird. Durch Tricks, nicht durch Arbeit. Und das unter Genossen Stalin.
8. April 2017, 21:58
Ein "besserer" Mensch
Ostap Bender, der Protagonist, das ist der Mann mit der weißer Schirmmütze, "wie sie meist Conferenciers oder Administratoren von Sommergärten tragen". Außerdem hat Bender kurioserweise immer einen Hebammenkoffer dabei. Er bewegt sich schwungvoll, sympathisch; ein "Gigerl" hätte man das in Wien früher genannt; tatsächlich ist er ein kleiner Gauner.
Seine Schöpfer Ilf und Petrow sagen über ihn: "Er gehört zweifellos zum größeren und besseren Teil der Menschheit." Schauplatz ist die Kleinstadt Arbatow, irgendein Ort in der jungen Sowjetwelt. Eine erdbeerfarbene Fahne, die des Kommunismus, knattert über dem lokalen Kreml. Vor der obligaten Kirche mit Zwiebeltürmen hocken mürrische Greisinnen, und schimpfen auf Französisch auf die Sowjetmacht. Mehr als Schimpfen ist den Überbleibseln des alten Regimes nicht geblieben. Allerdings ist auch Bender von der Hauptstraße alles andere als angetan: "Nein", sagte er traurig, "das ist nicht Rio de Janeiro".
Sogleich folgt eine der bekanntesten Szenen der russischen Literatur des 20 Jahrhunderts, genauer, der Sowjetliteratur - wobei angemerkt sei: Auch der Emigrant Wladimir Nabokow zollte dem Autorenduo Ilf-Petrow, da sich manchmal auch als "Tolstojewskij" bezeichnete, höchsten Respekt.
Sohn des Leutnants Schmidt
Ostap Bender, keinen Rubel in der Tasche, betritt das Büro des örtlichen Parteichefs und gibt sich als Sohn des Leutnants Schmidt aus, eines Helden der Revolution von 1905, um Geld zu schnorren.
Zitat
"Guten Tag. Erkennen sie mich?
Der Vorsitzende, ein Mann mit schwarzen Augen im mächtigen Schädel, bekleidet mit einem blauen Jackett und ebensolchen Hosen (...) sah den Besucher recht zerstreut an und tat kund, er erkenne ihn nicht.
"Wirklich nicht? Aber viele finden, ich sähe meinem Vater sehr ähnlich."
"Ich sehe meinem Vater auch sehr ähnlich", sagte der Vorsitzende ungeduldig. "Was möchten Sie, Genosse?"
"Kommt drauf an, wer der Vater ist", bemerkte der Besucher traurig. "Ich bin der Sohn des Leutnants Schmidt." (...)
"Schön, dass sie kommen", sagte der Vorsitzende endlich. "Sie sind gewiss aus Moskau."
Der Dialog geht - voller Slapstick - noch eine gute Weile dahin: Bender bekommt seine fünfzig Rubel, schließlich soll es im Leben nicht nur um schnöden Mammon gehen. Die Situation wird allerdings brenzlig, als ein weiterer und schließlich sogar noch ein dritter Sohn des Leutnants Schmidt auftaucht.
Ironie über die herrschenden Zustände fiel den beiden Chefsatirikern der Sowejtunion Ilja ILF (1897-1937) und Jewgenij Petrow (1903-1942) gar nicht so leicht: Schon in ihrem ersten Roman "Zwölf Stühle" hatten sie die individualistische Jagd nach Reichtum und Glück immer wieder den Anforderungen der Zensur anpassen müssen - einmal durften sie sich über die Losungen der Weltrevolution lustig machen, dann war wieder bloßes Lob für "Stoßarbeiter" angesagt. Streben nach Reichtum war ohnedies dem Untergang geweiht; keine Kunst nebenbei in einem Land, das noch an den Folgen von Bürgerkrieg und Hungernöten litt. Was Ende der 1920er Jahre angesagt ist, ist Kunst, die sich den Verhältnissen möglichst schlau anpasst - daher rührt auch der Erfolg der beiden Bender-Romane bis heute.
Der große Traum
Die vier Helden des "Goldenen Kalbes" haben ihre eigenen Geschichten: Panikowski war schon vor der Revolution Taschendieb am Kiewer Kreschtschatik, Shura Balaganow, in Sowjetzeiten aufgewachsen, war immer schon ein Sohn des Leutnants Schmidt und irrlichterte zwischen Bering-Straße und Krim herum. Einmal hatten die zahllosen Söhne sogar den mafiaartigen Versuch unternommen, das Land in Betätigungsfelder aufzuteilen: "Alle Republiken lagen in einer Ohrenklappenmütze aus Hasenfellen und warteten auf ihren Besitzer." Nur Ostap Bender hat einen anderen, noch größeren Traum, der ein wenig geschraubt so klingt:
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Letztes Jahr sind bei mir ernsthafte Unstimmigkeiten mit der Sowjetmacht entstanden. Sie will den Sozialismus aufbauen, ich will das nicht. Das ist mir zu langweilig. Verstehen Sie, jetzt, wozu ich das Geld brauche?"
Der Vierte im Bunde ist ein gewisser Kozlewic, Besitzer eines altertümlichen Automobils, genannt "Gnu"; sein Traum vom Taxiunternehmen hat sich bislang nicht recht realisiert. Und das Goldene Kalb, die alttestamentarische Versuchung? Shura Balaganow hat im Gefängnis von einem Untergrundmillionär Namens Korejko gehört, der sich in der Stadt Tschernomorsk (gemeint ist Odessa, der Geburtsort von Ilf und Petrow) aufhalten soll. In der UdSSR kann es gar nicht anders sein, wenn es einen Millionär gebe, dann könne der nur im Untergrund tätig sein.
Ach, die Liebe!
Damit beginnt ein Road-Movie durch alle Bereich der Sowjetgesellschaft, in dem Ilf/Petrow nichts auslassen: herabgekommene Monarchisten und lächerliche liberale Intellektuelle werden ebenso vorgeführt wie der absonderliche, gesichtslose Bürokratismus des "Herkules"-Trustes, in dem der Untergrundmillionär ein unscheinbares, geiziges Beamtenleben führt: von einer Parodie auf den sozialistischen Realismus der Sowjetmalerei geht es weiter zu essayistischen Betrachtungen über die Absurditäten des zwangsweisen Zusammenlebens in einer Kommunalka, einer sowjetischen Gemeinschaftswohnung.
Nach dem Modell des staatlichen Geheimdienstes erstellt Ostap Bender ein Dossier, ein sogenanntes "Kompromat" über seinen Gegenspieler, den blonden und weißäugigen Korjeko, der seine geheimen Millionen in der Gepäcksabgabe des Bahnhofs aufbewahrt. Und es gibt natürlich eine Liebesgeschichte - Liebe in Zeiten des aufzubauenden Sozialismus klingt bei Ilf/Petrow augenzwinkernd so:
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Nacht, Nacht. Nacht liegt über dem Land.
Im Hafen von Tschernomorsk drehten sich sacht die Kräne, lassen Stahltrossen in die tiefen Räume der ausländischen Schiffe hinab und drehen sich wieder, um behutsam, katzenzärtlich Kiefernholzkisten mit der Ausrüstung des im Bau befindlichen Traktorenwerks auf den Kai zu setzen. Rosa Kometenschweife brechen aus den hohen Schloten der Silikatwerke. Die Sternenhaufen des Dneprostroi, von Magnitogorsk und Stalingrad glühen. Im Norden geht der Stern des Roten Putilow-Werkes auf, gefolgt, von einer großen Zahl Sterne erster Größe: Fabriken, Kombinate, Kraftwerke, Neubauten. Der ganze Fünfjahresplan leuchtet und verdunkelt den alten Himmel, der schon über Ägypten geflimmert hat.
Und der junge Mann, der schon mit seiner Liebsten im Arbeiterklub sitzt, knipst rasch die elektrifizierte Karte des Fünfjahresplanes an und flüstert:
"Sieh mal, das rote Lichtlein dort. Da kommt das sibirische Kombinewerk hin. Dorthin fahren wir. Willst du?"
Die Liebste lacht leise und macht ihren Arm frei.
Nacht, Nacht, Nacht liegt, wie bereits gesagt, über dem Land.
Verbotene Freiheiten
Ilf und Petrow machen sich nicht nur über alles lustig, an manchen Stellen nehmen sie sich Freiheiten, die in Sowjetzeiten niemandem gewährt wurden: Ostap Benders Besuch in einem Irrenhaus mit einigem Spott über Psychiatrie im Allgemeinen und die Psychoanalyse im Besonderen erschien in Sowjetzeiten nicht. Einen Insassen der Psychiatrie, einen gewissen Gaius Julius Starochamskiw, der von sich behauptetem, er sei "aus rein ideellen Erwägungen ins Irrenhaus gegangen", lassen sie sagen:
Zitat
"In Sowjetrussland (...) ist das Irrenhaus der einzige Platz, wo ein normaler Mensch leben kann. Alles Übrige ist Chaos. Nein, mit den Bolschewiken kann ich nicht leben. Dann schon lieber hier mit den gewöhnlichen Irren. Die bauen wenigstens keinen Sozialismus auf. Außerdem wird man hier verpflegt. In dem Chaos draußen muss man arbeiten. Ich will aber nicht für denen ihren Sozialismus arbeiten. Hier habe ich endlich persönliche Freiheit. Freiheit des Gewissens. Freiheit des Wortes."
Kafkaeske Situationen
Der Griff nach der Million scheitert immer wieder - die Situation wird immer "kafkaesker", einem lange Disput zwischen Bender und Korejko entkommt Letzterer nur durch Zufall: Korejko ist eigentlich schon "moralisch" überzeugt, dass er eine Million an Bender abtreten muss, als in Tschernomorsk eine Gasschutzübung abgehalten wird. Der Untergrundmillionär entschwindet mit einer Gasmaske vor dem Gesicht in der Menge.
Benders Traum vom goldenen Kalb scheint ausgeträumt, als ihm Zosia Zinicka, Korejkos ehemalige Freundin, zu Hilfe kommt, in die sich Ostap seinerseits verliebt. En passant entsteht ein Porträt der Filmstudios von Odessa, denen Bender ein Drehbuch anbietet. Von Zosia erfährt Bender, dass sich der "zweite Kombinator" Korjeko nach Zentralasien, zum Bau der "Turk-Sib", der "östlichen Magistrale" abgesetzt hat. Ostap Bender steht vor der Wahl: Liebe oder Geld - und entscheidet sich für Letzteres.
Zitat
Er machte kehrt und folgte der Geliebten. Wohl zwei Minuten lang spurtete er unter den schwarzen Bäumen. Dann bliebe er wieder stehen, nahm die Kapitänsmütze ab und trat auf der Stelle.
"Nein, das ist nicht Rio de Janeiro", sagte er endlich.
Slapstick pur
Auf dem Weg zum Vorzeigeprojekt des Fünfjahresplanes stirbt Panikowski, Balaganow und Kozlewicz entscheiden sich, zu ihren früheren Tätigkeiten zurückzukehren. Sie werden wieder normale Diebe.
Es ist ein Feuerwerk an Witz und Boshaftigkeit, mit dem Ilf/Petrow die Reise der offiziellen Delegation samt ausländischen Journalisten und Spezialisten zur exotischen Baustelle in Turkestan begleiten.
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Für die Ausländer öffnete sich gleich hinter Orenburg ein weiteres Betätigungsfeld als sie das erste Kamel, die erste Jurte und den ersten Kasachen mit spitzer Fellmütze und einer Knute in der Hand erblickten. Auf einer Ausweichstelle, wo der Zug zufällig hielt, richteten sich mindestens zwanzig Fotoobjektive auf einen Kamelkopf. Nun begann die Exotik - Wüstenschiffe, freiheitsliebende Steppensöhne und sonstiger romantischer Kram.
Der Ewige Jude
Von der tatsächlich katastrophalen Hungernot, die damals die Hälfte der kasachischen Bevölkerung hinwegraffte, wagten auch Ilf und Petrow nicht zu schreiben. Allerdings bieten sie eine bittere Version der Legende vom Ewigen Juden, ein Thema, das sowohl die beiden jüdischen Verfasser Ilf und Petrow wie eine der Figuren ihres Romans, den amerikanischen Journalisten Burrman brennend interessiert: Der Ewig Jude in sowjetischer Version:
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Akkurat im Jahre neunzehnhundertneunzehn überschritt der Ewige Jude in seiner Ritterhose illegal die rumänische Grenze. Es braucht wohl kaum erwähnt zu werden, dass er am Bauch acht Paar Seidenstrümpfe und einen Flakon Pariser Parfum barg, die er auf Bitte einer Dame aus Kischinjow ihren Kiewer Verwandten überbringen sollte. In jener stürmischen Zeit nannte man das Schmuggeln am Bauch "einen Umschlag tragen". Dies hatte man dem Alten in Kischinjow beigebracht. Nachdem er den Auftrag ausgeführt hatte, stand er am Ufer des Dnjepr und ließ den schmuddelig-grünen Bart hängen. Da trat ein Mann mit gelbblauen Lampassen und Petljura-Schulterklappen auf ihn zu und fragte streng:
"Jid?"
"Jid" antwortete der Alte.
"Also komm", lud ihn der Mann ein.
Und führte ihn zum Ataman seiner Abteilung.
"Einen Jiden gefangen", meldete er und stieß den Alten mit dem Knie vorwärts.
"Jid?" fragte der Ataman fröhlich erstaunt.
"Jid", antworte der Wanderer.
"Stell ihn an die Wand", sagte der Ataman zärtlich.
"Aber ich bin doch der Ewige!", schrie der Alte.
Zweitausend Jahre lang hatte er ungeduldig auf den Tod gewartet. Doch jetzt wollte er auf einmal weiterleben.
"Halt's Maul, Judenfresse", schrie der beschopfte Ataman freudig. "Los, Jungs, macht ihn hin."
Und der Ewige Wanderer war nicht mehr.
Die Anspielung auf die zahllosen Pogrome in der Ukraine während des Bürgerkrieges erweist sich auch als prophetische Darstellung von Benders eigenem Schicksal. Als er schließlich seine Million von Koreko bekommt, stellt sich heraus, dass er damit gar nichts anfangen kann: Im Land des Sozialismus kann man Wohnung oder Auto nur aufgrund von Verdiensten und nicht bloß mit Geld erwerben. "Die Träume des Idioten", wie Ostap Bender zuletzt sagt, "sind eingetroffen" - ihm bleibt nichts als die Flucht aus dem Paradies der Werktätigen über die zugefrorene Donau nach Rumänien.
Alles umsonst
Der Showdown fällt dramatisch aus: Rumänische Grenzsoldaten überfallen Ostap Bender, seine Beteuerung, er sei ein alter Professor, der soeben den Folterkellern der Tscheka, also der Staatssicherheit, entkommen sei, fruchtet nichts. Der große Kombinator erkennt, dass "das Interview beendet" ist und gelangt unter Mühen ans Sowjetufer zurück: Ins Leere sagt er:
Service
"Bitte keine Ovationen! Ein Graf von Monte Christo bin ich nicht geworden. Ich muss mich zum Hausmeister qualifizieren."
Den geplanten dritten Roman, in dem Ostap Bender im Arbeitslager "umqualifziert" werden sollte, haben Ilja Ilf und Jewgeni Petrow nicht mehr geschrieben.
Service
Ilja Ilf, Jewgeni Petrow, "Das Goldene Kalb oder Die Jagd nach der Million", übersetzt aus dem Russischen und überarbeitet anhand des erstmals vollständig vorliegenden russischen Originals von Thomas Reschke, Die Andere Bibliothek