Die Frau, die Jules und Jim liebte
Helen Hessel
Anfang des Jahres verstarb Stéphane Hessel im hohen Alter von 95 Jahren. Der ehemalige Widerstandskämpfer der Resistance, UNO-Mitarbeiter und politische Aktivist erlangte 2010 mit seinem Essay "Empört euch!" große Aufmerksamkeit. Er war auch eine wichtige Quelle für Marie-Françoise Peteuils Biografie über seine Mutter, Helen Hessel.
8. April 2017, 21:58
Peteuil stützte sich in ihren Recherchen außerdem auf Helen Hessels autobiografisches "Journal" und die Tagebücher von Henri-Pierre Roché. Literarische Werke von Franz Hessel, Stéphanes Vater und Helens Ehemann, wurden ebenfalls hinzugezogen - schließlich handeln einige seiner Romane von seiner Frau. Und somit hätten wir auch schon das legendäre Dreieck, auf das Henri-Pierre Rochés Roman "Jules und Jim" basiert, beisammen: Jules ist Franz Hessel, Roché ist Jim. Und Helen Hessel ist Kathe, die Frau, die beide Männer liebte und von beiden geliebt wurde. Die Wirklichkeit war jedoch alles andere als romantisch, wie es uns Francois Truffauts gleichnamige Verfilmung suggeriert. Maire-Francoise Peteuils Biografie konzentriert sich nicht ausschließlich auf dieses Liebesdreieck, sondern vielmehr auf das Leben von Helen Hessel.
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Am Freitag, den 30. April 1886 kam in einem der hochherrschaftlichen Wohnhäuser im Bayerischen Viertel in Berlin Helen Katharina Anita Berta Grund zur Welt, als fünftes und letztes Kind des Bankiers Friedrich Wilhelm Carl Grund, damals achtunddreißig Jahre alt, und seiner sieben Jahre jüngeren Gattin Julie Anna Butte. (...). Helens Vater Fritz Grund (...) sollte sich wegen seines mangelnden beruflichen Ehrgeizes von seiner illustren Familie stets geächtet fühlen. Zeit seines Lebens griff er lieber zum Pinsel oder setzte sich ans Klavier, als sich um die Geschäfte zu kümmern. Er malte Landschaften, aber auch Fantasiebilder. Sein Enkel Ulrich Hessel, Helens ältester Sohn, erinnerte sich an "oft sehr komische Motive", die Fritz Grund aus Farbresten zauberte, "zum Beispiel weiße Gespenster, die zwei alte Frauen überraschen, die auf einem schwarzen Weg durch grüne Wiesen gehen, auf die eine knallrote untergehende Sonne scheint". So viel künstlerischer Übermut ist schwer mit der Seriosität zu vereinbaren, die man von einem preußischen Bankier erwartet. Ulrichs Bruder Stéphane erzählte, sein Großvater sei "ein wunderbarer, sehr herzlicher Mensch" gewesen, "der gern lachte, mit den Kindern Späße machte und Klavier spielte".
Als Nesthäkchen aufgewachsen
Helen wurde als Nesthäkchen von ihrer Familie maßlos verwöhnt. Beim Spielen ging immer sie als Siegerin hervor - zum einen wegen ihres damals schon starken Willens, zum anderen, weil man sie gewinnen ließ. Jedoch war nicht alles eitel Wonne. Fritz Grund war kein guter Geschäftsmann, ohne die Unterstützung von Freunden wäre er wohl Bankrott gegangen. Außerdem war er auch kein treuer Ehemann, so hatte er zum Beispiel ein uneheliches Kind mit einer Dienstmagd.
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Fritz' Seitensprünge setzten Julie Anna sehr zu, aber sie waren wohl nicht der einzige Grund für ihre labile Psyche. In ihrer Familie hatte es mehrere Fälle von Geisteskrankheit gegeben. (...) Immer häufiger wurde Julie Anna von "Nervenkrisen" befallen, in denen sie vollkommen erstarrte und für niemanden ansprechbar war. (...) Helen schilderte sich und ihre Geschwister später am liebsten als fünfköpfige Truppe voll unbändiger Energie. Möglicherweise trug dieser Übermut zu Julie Annas Leiden bei, so hat Helen es jedenfalls empfunden. "Sie waren eine Bande fest verschworener Racker, veranstalteten zusammen einen Heidenlärm und wilde Streiche, rannten im Treppenhaus rauf und runter, versetzten ihre Mutter ganz bewusst in Angst und Schrecken, indem sie so taten, als würden sie aus dem Fenster springen, und dergleichen Unsinn mehr", erinnerte Stéphane Hessel sich an die Erzählungen seiner Mutter. Diesen unablässigen Trubel sollte Helen später als typisch für das Ambiente im Hause Grund bezeichnen: fröhliche Spiele, schallendes Gelächter, der Drang aufzufallen. (...) Die Lust an der Provokation bestimmte Helens ganzes Dasein, zuweilen bis zum Exzess. (...) Einer ihrer Enkel, der Psychoanalytiker Michel Hessel, bestätigt, dass sie sich voll und ganz zu ihrem Narzissmus bekannt hat.
Helens Mutter kam schließlich in eine Anstalt, ebenso wie Helens Bruder Otto, der dort früh verschied. Helens zweiter Bruder, Fritz, beging mit 20 Jahren Selbstmord. Die älteste Schwester, Ilse, nahm sich im Alter von 52 Jahren das Leben.
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Sogar die vor Lebenslust strotzende Helen sollte später einen Selbstmordversuch unternehmen. Ihr Leben lang fürchtete sie sich vor dem Wahnsinn, der stets in ihrer Nähe zu lauern schien, auch wenn es ihr gelang, ihn in Schach zu halten. (...) Allerdings zog sie (...) wiederholt Nutzen aus einem ärztlichen Attest, das ihr aufgrund der familiären Vorbelastung legale Abtreibungen ermöglichte.
Affäre mit dem Lehrer
Im Alter von 17 Jahren entschloss sich Helen, Malerei zu studieren. Sie schrieb sich an der sogenannten Damenakademie des Berliner Künstlerinnenvereins ein, im Atelier von Käthe Kollwitz. 1905 besuchte sie eine Sommerakademie in Blankensee in Brandenburg und begann dort eine Affäre mit ihrem fast 30 Jahre älteren Lehrer, dem englischstämmigen Maler George Mosson.
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Bei Mosson, dem Lehrmeister, der ihr Vater hätte sein können, fühlte sie sich geborgen, er gab ihr Sicherheit. Und auch er verhätschelte und vergötterte sie. "Ein unvergesslicher Mann, der mein Bedürfnis nach Liebe noch mehrte, indem er es stillte", notierte sie. Doch in Blankensee herrschte damals allgemein eine sinnenfrohe Stimmung, die Helens Experimentierfreude anfachte. So gab sie sich nicht nur Mosson hin, sondern gewährte auch ihrer Freundin Fanny Remak, mit der sie zusammenwohnte, einige Liebkosungen (...) Episoden dieser Art haben einige dazu verleitet, Helen als lesbisch einzustufen. (...) In dieser Zeit brillierte Helen, sprühte vor Lebensfreude, Freiheitsdrang und Keckheit. (...) Helens Liaison mit Mosson währte beinahe sieben Jahre. (...) Doch inzwischen war sie sechsundzwanzig Jahre alt, ihre Schwester Ilse hatte bereits das vierte Kind zur Welt gebracht (...) Möglicherweise hatte sie Helen zur Ordnung gerufen, weil sie sich seit Jahren ziellos treiben lies. Helen erklärte sich bereit, ihr beschauliches Berliner Leben, das sich zwischen Mosson, der Akademie, ihrem Vater und ihren Geschwistern abspielte, aufzugeben und ihr Studium der Malerei in Paris fortzusetzen.
Dort traf Helen im Jahr 1912 ein. Die Stadt gefiel ihr nicht und sie hatte Heimweh, obwohl zwei ihrer Berliner Freundinnen mit ihr nach Paris gezogen waren. Mittelpunkt ihres Pariser Alltags wurde das Café du Dome, eine Art deutsche Künstlerenklave in Montparnasse. Dort lernte sie eines Tages Franz Hessel kennen, einen jungen deutschen Dichter aus wohlhabender jüdischer Familie.
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Inzwischen lebte er seit fünf Jahren in Paris, wo er mit dem Kunsthändler Henri-Pierre Roché eine intensive Freundschaft pflegte. Der große hagere Franzose und der kleine rundliche Deutsche waren so gegensätzlich wie unzertrennlich. Und sie hatten einiges gemeinsam: Sie gaben sich gern der Muße hin, unternahmen lange Spaziergänge und führten angeregte Gespräche, rauchten Zigarren und kümmerten sich liebevoll um ihre Mütter, zu denen beide eine enge Bindung hatten. (...) Später erinnerte Helen sich lebhaft an die ersten Gespräche, die sie (...) mit ihm geführt hatte. Als Franz hörte, wo sie aufgewachsen war, fragte er: "War Ihre Kinderfrau nicht eine sehr dicke Person? Und hatten Sie nicht ein Plüschmäntelchen an mit einer Kapuze?" Nach einer Weile antwortete Helen: "Ja, aber dann waren Sie doch der Junge, der immer so langsam vor sich hin ging?" In Wahrheit waren sie sich als Kinder in Berlin nie begegnet, aber Helen ließ sich spontan auf Franz' Gedankenspiel ein. Beide verstanden sich auf Anhieb, und es fiel ihnen leicht, ihre Vorstellungswelt zu teilen. (...) Eine Wohltat für Helen, die sich fern ihrer Heimatstadt und Familie so fremd und einsam fühlte. (...) Von da an, im Herbst 1912, verbrachten Helen und Franz viel Zeit miteinander. (...) Um Helen zu erobern, legte er ihr die Stadt zu Füßen (...) und schenkte ihr das, was sie offenkundig am meisten brauchte: fürsorgliche Aufmerksamkeit und ein Gefühl von Vertrautheit. (...) Jeden Tag trafen sie sich, und er zeigte ihr (...) sein Paris, seine liebsten Ecken und Viertel. Helen dankte es ihm mit einem geradezu kindlichen Enthusiasmus, einem naiven Übermut, der vielleicht eine Spur übertrieben war. Franz und sie amüsierten sich jedenfalls köstlich.
Seelenverwandtschaft mit Franz Hessel
Nach einiger Zeit wurde aus den beiden Freunden ein Liebes- und schließlich ein Ehepaar. Ihre Beziehung war weniger von Leidenschaft als von einer Seelenverwandtschaft geprägt. Doch bereits nach kurzer Zeit begann Franz Helen zu vernachlässigen. Der Alltag war eingekehrt und Franz widmete seine Aufmerksamkeit, die er zuvor der Eroberung Helens entgegengebracht hatte, wieder dem Schreiben.
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Die Ehepartner verletzten sich gegenseitig, Helen meist durch Provokation, Franz durch Nichtbeachtung. Eine der berühmtesten Szenen aus "Jules und Jim", Kathes Sprung in die Seine, veranschaulicht diese Dynamik: (...) im Herbst 1913 hatte Roché die beiden in ein Restaurant eingeladen. Während des Abendessens widmete Franz sich ausschließlich seinem alten Freund, ohne Helen in das Gespräch miteinzubeziehen. Sie nahm es wortlos hin, doch als sie anschließend zu dritt an den Quais spazierengingen und die Männer ihr Zwiegespräch munter fortsetzten, sprang Helen ohne Vorwarnung ins Wasser. Die begnadete Schwimmerin tauchte ein Stück, bis Roché sie schließlich herauszog. Zwar schlotterte Helen in ihrer nassen Kleidung am ganzen Leib, aber dafür hatte sie endlich beider Aufmerksamkeit voll und ganz auf sich gezogen.
Helen war unglücklich und fühlte sich gefangen. Franz musste während des Ersten Weltkrieges einrücken und kam traumatisiert zurück. Helen stürzte sich in Affären. Die Geburten ihrer Söhne Ulrich und Stéphane brachten sie einander wieder näher, aber nur kurz. Helens Rastlosigkeit führte dazu, ihre Familie für einige Zeit zu verlassen, um sich in Polen als Landwirtin ausbilden zu lassen. Nach einiger Zeit kehrte sie wieder zu Franz zurück. Der bat seinen Freund Roché um Hilfe.
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Vermutlich setzte er darauf, dass Roché als großer Frauenkenner ihm helfen würde, sie zu halten. Mehr oder weniger unbewusst rief er ihn auch herbei, um seine Frau zu verführen, die er selbst nicht mehr befriedigen konnte. Diese Dreiecksituation war für beide nicht neu, davor hatte es unter anderem schon Marie Laurencin und Luise Bücking gegeben. Helen, die dieses Spiel noch nie gespielt hatte, war immer noch rastlos, aber sie ahnte, dass Franz mit Roché Abhilfe schaffen wollte (...) Franz schien seinem Freund zu signalisieren, "übernimm du sie bitte, ich schaffe es nicht mehr".
Ménage à trois
Ursprünglich hatte Franz seinem Freund einen Riegel vorgeschoben, was Helen betraf. Das machte sie für den Frauenhelden umso interessanter. Und so war es kein Wunder, dass er auf Franz' Hilferuf mit wehenden Fahnen herbeieilte. Die Ménage à trois entwickelte sich zu einer verhängnisvollen Affäre. Roché, eindeutig ein Narziss, gelangte zur Überzeugung, dass Helen die Mutter seines Sohnes sein musste. Der Wunsch nach einem Stammhalter entwickelte sich zu einer Obsession. Als Helen schließlich schwanger wurde, bekam Roché Panik.
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Er hatte keine Zeit gehabt, seine besitzergreifende Mutter auf die neue Situation einzustimmen. (...) Eine Heirat sagte ihm nicht zu, im Gegenteil, er sah sich sogar als "revolutionären" Feind der Ehe. Um Helen zu trösten, streifte er ihr einen imaginären Ring über, die Parodie einer Hochzeit. Außerdem wollte er auf keinen Fall, dass das Kind Franz' Namen trug. (...) Er wollte einen Sohn (eine Tochter wurde so gut wie nie in Betracht gezogen), aber die Mutter wollte er nicht als ständige Gefährtin. Aus diesem Grund hatte er sich ein äußerst kompliziertes Verfahren zurechtgelegt: Helen sollte sich erst von Franz scheiden lassen und ihn heiraten, sobald sie schwanger war, und sich unmittelbar nach der Geburt des Kindes von ihm scheiden lassen, um wieder Franz heiraten zu können, falls sie es dann noch wollte. (...) Maßlos enttäuscht und gekränkt fuhr Helen (...) nach München, um das Kind abtreiben zu lassen.
Trotzdem ging die Affäre noch einige Jahre weiter. Franz, dem das selbstzerstörerische Treiben der beiden schließlich zu bunt wurde, schaffte räumliche Distanz. Er weilte in Berlin, während Helen und Roché in Paris lebten.
Lust auf mehr
Maire-Francoise Peteuil beschreibt in ihrer Biografie sehr ausführlich, wie sich diese Dreiecksbeziehung abgespielt hat. Außerdem thematisiert Peteuil Helens Kontakte zu diversen Künstlern wie Man Ray, Rainer Maria Rilke und Walter Benjamin, den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und wie Helen Franz von Berlin nach Paris in Sicherheit brachte, sowie Stéphanes Eintritt in die Resistance, Helens Mitarbeit im Widerstand, ihre Arbeit als Modejournalistin und Übersetzerin (unter anderem von "Lolita") und natürlich auch die Entstehung von "Jules und Jim".
Manches wiederholt sich und manchmal scheint die Biografin ihren Vermutungen über Helens Innenleben zu sehr freien Lauf zu lassen. Doch das über 400 Seiten starke Buch lässt sich zügig lesen und macht Lust auf mehr - zum Beispiel auf eine Biografie über Helens Sohn Stéphane Hessel, über den man ebenfalls einiges in Peteuils Werk erfährt.
Service
Maire-Francoise Peteuil, "Helen Hessel. Die Frau, die Jules und Jim liebte", aus dem Französischen übersetzt von Patricia Klobusiczky, Schöffling & Co.