Tagebuch von Imre Kertész

Letzte Einkehr

Der Tagebuchband ist in gleich mehrfacher Hinsicht ein Dokument des Scheiterns, doch Kertész verwandelt es, buchstäblich mit letzter Kraft, in einen Triumph. Noch einmal zeigt er, der mit der Moderne und dem Existenzialismus vertraute Künstler, die Kraft der Negation. Kertész kommt dem Tod zuvor.

Der "Gegenstand ununterbrochenen Schreibens"

Durchs Schreiben sucht Imre Kertész dem Leben zu entkommen, dem bloßen Funktionieren, der Schicksallosigkeit, von der sein erster Roman ganz konkret und alle weiteren in vielfältigen Brechungen handelt. Das "ganze Leben" ist Kertész "Gegenstand ununterbrochenen Schreibens". "Was sich dabei herausbildet", bewundert er im "Galeerentagebuch" sein Vorbild, den Tagebuchschreiber Thomas Mann, "ist, mit einem Wort, Lebensstil - Stil als Existenz auf höherer Ebene, als durchgeistigte Form des Daseins. Als erträgliche Form des Daseins".

Unerträglich ist das Leben, weil es Kollaboration bedeutet. Nur indem er sich der Logik des Vernichtungslagers fügte, überlebte Imre Kertész als Jugendlicher Auschwitz und Buchenwald. Die Erinnerung an die KZs weckte jedoch erst das "Madeleine-Törtchen" des ungarischen Stalinismus und ließ ihn dreizehn Jahre an dem "Roman eines Schicksallosen" arbeiten, jenem Buch, in dem ein Jugendlicher das KZ Auschwitz und alle Maßnahmen zu seiner eigenen Vernichtung als vernünftig und gut organisiert beurteilt.

Durch diese schonungslose Konfrontation mit der Schande der Kollaboration gewann der Autor Kertész die Freiheit. Seinem grandiosen, beklemmenden Roman, einem der wichtigsten des Jahrhunderts, folgten zahlreiche Bücher, in denen der Autor sein Leben formte und begriff. Sie machten Kertész - wenn auch spät - berühmt, 2002 erhielt er den Literaturnobelpreis.

Das Leben vernichten

Ist das ausgleichende Gerechtigkeit? Es sei eine "Glückskatastrophe", eine Absurdität, schreibt Kertész in "Letzte Einkehr", seinem neuen Band mit Tagebüchern aus den Jahren 2001 bis 2009 sowie dem Prosafragment "Die letzte Einkehr". Zwar freut ihn die materielle Sorglosigkeit, auch das späte Glück mit der zweiten Ehefrau Magda. Doch das private Glück und der "Literarische Hauptgewinn" drohen, das eigene, selbstgewählte Leben zu vernichten.

Dessen Freiheit verdankt sich einer radikalen Prosakunst und der existenzialistischen Philosophie. Mit ihnen betrieb Kertész seine Liquidation, um es weiter auszuhalten in einer Welt, deren christliche Zivilisation durch Auschwitz Bankrott erlitt. Sehnsüchtig erinnert sich Kertész an die Jahre unter der Diktatur und neben der ersten Ehefrau. Die Zeit sei hart und bitter gewesen, aber es war möglich, sie rundum zu negieren und Glück und Freiheit in der Kunst zu finden.

"Garten der Trivialitäten"

Kertész gibt nicht auf. Er greift zum Stift, dann, gezwungen durch die Parkinson-Erkrankung, zum Laptop, und plant, so schreibt er, ein "radikal persönliches Buch, bis schließlich nichts mehr übrig bleibt (Die letzte Einkehr). Den Weg zu Ende gehen, im wortwörtlichen Sinn. Die Figur zerrütten, zermalmen, zernichten. Aber möglichst ohne jede Erklärung, vor allem ohne jede sogenannte Philosophie."

"Die letzte Einkehr" heißt dieser 2003 begonnene Prosatext, destilliert aus Tagebuchaufzeichnungen. Doch Kertész scheitert bald, er weiß nicht mehr, zu welcher "nackten Wahrheit" er vorstoßen könnte. Knapp ein Jahr später wendet er sich dem fiktiven Selbstinterview "Dossier K." und dem Drehbuch zum "Roman eines Schicksallosen" zu. Das Tagebuch, begonnen als "Geheimdatei", wird als "Garten der Trivialitäten" weitergeführt. Damit vollendet der Tagebuchband die Annäherung an die leibhaftige Existenz des Autors, die seit "Dossier K.", dieser Autobiografie "in zwei Stimmen" aus dem Jahr 2006 zu beobachten ist. Sein Werk, schreibt Kertész, sei mit dem Roman "Liquidation", seit 2003, zu Ende. Nun schreibe er Trivialitäten auf.

Allerdings verleiht er ihnen so Stil, durchgeistigt sie, und daher ist das Tagebuch nicht trivial. Kertész verzichtet zwar auf die luziden philosophischen Reflexionen des "Galeerentagebuchs". Aber seine Schilderungen der gesundheitlichen Probleme und Ängste, das Glück mit Magda, die erotischen Freuden und Leiden, der Umzug nach Berlin wegen des grassierenden Antisemitismus' in Ungarn sowie die vielen Aufenthalte im Ausland - all das rückt Kertész und seine Frau ohne Indiskretion in große Nähe. Gedanken über das Werk sind nicht allzu häufig, es herrschen die physischen, technischen, ästhetischen Mühen am Schreibtisch vor. Und der in der Öffentlichkeit stets bemerkenswert heitere und gelassene Autor berichtet von quälenden Minderwertigkeitsgefühlen. So nah wie in diesen Tagebüchern kam man Kertész noch nie.

Das Ende gestalten

Er, der lange Zeit Objekt war in der Hand von Schergen und Mördern, will das ästhetische Heft um jeden Preis in der Hand behalten und sein Leben bis zum Schluss selbst gestalten. So steht am Ende des Bandes "Letzte Einkehr", der als Zeugnis des Scheiterns auch das Fragment "Die letzte Einkehr" enthält, das "Exit-Tagebuch" des Jahres 2009. Es ist wie "Die letzte Einkehr" kursiv gesetzt und lässt auf den "unerträglichen Terror des Alters" das Verstummen folgen. Der 80-jährige Kertész, krank und geschwächt, gestaltet das Ende, bevor es ihm zustößt. "Letzte Einkehr" ist ein bewegendes Buch des Abschieds: ein Freitod im Ästhetischen, begangen von einem freien Menschen. Nun schweigt der Künstler.

Ein einziges Wort war von dem sichtlich geschwächten, im Rollstuhl sitzenden Imre Kertész bei seinem vielleicht letzten öffentlichen Auftritt im November letzten Jahres zu hören, als das Archiv des Nobelpreisträgers in der Berliner Akademie der Künste eröffnet wurde. Es lautete: "Danke."

Service

Imre Kertész, "Letzte Einkehr. Tagebücher 2001-2009", mit einem Prosafragment, aus dem Ungarischen übersetzt von Kristin Schwamm, Rowohlt